15.11.2022
Detlef Bongartz

Opa ist weg – Wie sich Kinder das Tot-Sein vorstellen

Friert Oma nicht da unten im Grab? Der doofe Papa hat sich einfach aus dem Staub gemacht! Wann kommt mein Bruder wieder zurück? – Hinter solchen Kinderaussagen stecken unterschiedliche Vorstellungen vom Tod. Sich darauf einzulassen und die Kinder ernst zu nehmen, ist jetzt das Gebot der Stunde.

Erwachsene Menschen sind fühlende und denkende Wesen. Gefühl und Verstand bilden hierbei eine gleichwertige und liebevolle Partnerschaft. Säuglinge und jüngere Kinder sind dagegen rein emotionale Wesen, die erst im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung ein stimmiges Gleichgewicht zwischen Kopf und Herz erlernen werden.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der kindlichen Vorstellung vom Tod wider. Da Kinder noch magisch und egozentrisch denken und nur ein mangelhaft es Zeitverständnis haben, können sie vor dem achten Lebensjahr noch nicht alle Dimensionen des Todes erfassen_ – nämlich, dass der Tod den völligen Stillstand der Körperfunktionen bedeutet und nicht rückgängig zu machen ist, dass jeder Mensch (und jedes Tier, jede Pflanze) einmal sterben muss (ich selbst auch!) und dass die Ursachen rein biologisch sind.

Vielmehr bedeutet „tot sein“ für Kinder im Kita-Alter „gerade nicht da“ zu sein. Daher wirken Kinder nach Verlusterfahrungen auf uns sehr unbekümmert. Es kann auch vorkommen, dass sie sich in ihrer entwicklungsbedingt egozentrischen Denkweise schuldig für den Tod eines geliebten Menschen fühlen, da sie glauben, der erlebte Verlust diene einem bestimmten Zweck, z.B. der Bestrafung. Für Erwachsene sind solche gedanklichen Konstrukte zunächst nur schwer nachvollziehbar. Doch statt Gespräche über den Tod auf später, wenn das Kind „verständiger“ ist, zu verschieben, sollten wir dem Kind eine liebevolle, wertschätzende und akzeptierende Grundhaltung gegenüber einnehmen.

Kindergartenkinder haben in der Regel schon eigene Antworten und innere Bilder auf ihre Fragen in sich „gespeichert“. Sie sind genaue, emotionale Beobachter ihrer Umwelt und tragen ein gefühltes Wissen in sich. Die Aufgabe der begleitenden Erwachsenen besteht nun darin, ihnen ihre Zeit und ihren Raum dafür zu gestalten, diese Bilder abzurufen, sie ernst zu nehmen und mit ihnen darüber kindgerecht, aber offen und ehrlich, zu sprechen.

Todeskonzepte in den verschiedenen Altersstufen

Alter Typische Gefühle und Vorstellungen vom Tod Typische Verhaltensweisen und Aussagen Wie sollte das Kind jetzt begleitet werden?
Erste
Lebensmonate
Fürsorge und Geborgenheit durch eine vertraute Bezugsperson sind Ur-Bedürfnisse eines Säuglings. Auch wenn Babys noch kein Zeitverständnis haben, reagieren sie bei Verlust des vertrauten Menschen oft mit Nahrungsverweigerung, motorischer Unruhe, ungewöhnlichem Schreiverhalten oder Schlafstörungen. Ein Säugling reagiert ebenfalls auf die Stimmungen und Gefühle, die sie von ihren Eltern erleben. Nach dem Verlust einer vertrauten Bezugsperson, ist es nun ist es wichtig,
dass das Kind möglichst von einer oder wenigen konstanten Bezugspersonen
zuverlässig und liebevoll betreut wird.
1–3 Jahre In diesem Alter haben Kinder noch keine reale
Vorstellung vom Tot-Sein. Der Tod wird als Weg-Sein oder auch als Trennung erlebt. Reale und fantasierte Gegebenheiten gehen in der emotionalen Welt des Kindes nahtlos ineinander über und gestalten so eine magische Innenwelt, in der sich das Kind als allmächtig und unzerstörbar erlebt. Bis hin zum Grundschulalter bleibt diese magische Welt erhalten.
Im Rollenspiel werden Figuren, Puppen oder reale Menschen mit allen erdenklichen Eigenschaften belegt. Sie können in der magischen Welt fliegen, sich unsichtbar machen oder riesig groß werden. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. So ist es auch gut möglich, dass im Spiel der Kinder jemand stirbt und im nächsten Moment weiterlebt. Ab diesem Alter ist es wichtig, das Kind an allen Gegebenheiten von Abschiednahme
teilhaben zu lassen. Es spürt die Atmosphäre der Trauer und ist irritiert, wenn es vom Trauerprozess ausgeschlossen wird. In seiner Fantasie können sich verstörende Bilder festsetzen, etwa von „Monstern, die den Leichnam quälen“, oder dem „Opa, der nichts mehr zu essen bekommt“. Ehrliche Gespräche über den Tod sind wesentlich für einen gesunden Umgang mit der Trauer.
3–5 Jahre Nach der Erprobung des eigenen Willens ist jetzt die Phase der Omnipotenz erreicht. Es entwickeln sich Allmachtsgefühle. „Ich kann die Welt bewegen!“, „Ich bin der Stärkste!“ sind Äußerungen von Kindern im Sinne ihres eigenen Selbstbildnisses, unabhängig von realen Gegebenheiten. Gedanken und Vorstellungen werden nicht in logischen Zusammenhängen erzeugt, sondern haben einen emotionalen, magischen Bezug. Der Tod wird immer noch als vorübergehender Zustand gesehen. Dies hat insofern eine tiefergehende Relevanz, als dass sich diese Kinder verantwortlich und auch schuldig fühlen, wenn sie „Todeswünsche“ („Weg-Sein-Wünsche“) denken oder aussprechen. In diesem Alter wollen Kinder ihr Umfeld sinnlich begreifen. Bei der Abschiednahme möchten sie beispielsweise den Opa noch einmal anfassen. Sie spüren die kalte Haut, merken, dass selbst durch Berühren oder Zwicken keine Reaktion mehr kommt. Durch ihr magisches Denken rufen Kinder ihre eigenen inneren Bilder in sich ab. („Der Opa ist immer so gerne Bus gefahren. Da gibt es einen Bus direkt in den Himmel.“) Es kann sein, dass Kinder in diesem Alter Gefühle haben, die unserem erwachsenen Denken fern sind. So empfinden manche Kinder beispielsweise Wut gegenüber der Person, die sie „verlassen“ hat.

Nach wie vor gilt: Die Kinder müssen am Trauerprozess teilhaben dürfen. Jeder Abschied des Kindes vom Leichnam ist wichtig und muss von einer vertrauten Person begleitet werden. Das kann auch eine Erzieherin sein. Kinder brauchen jetzt Erwachsene, die sich auf ihre Sprache und ihre Bilder liebevoll einlassen, anstatt Gefühlsausbrüche oder „unrealistische“ Vorstellungen zu bewerten. Wir sollten die Kinder nach ihren eigenen Antworten fragen, etwa: „Wie stellst du dir das denn vor?“ Wenn die inneren Bilder des Kindes nicht mit negativen Gefühlen besetzt sind, sollten wir das Kind in seiner magischen Welt bestärken.

6–8 Jahre Jetzt beginnen die Kinder langsam zu verstehen, dass ein Mensch durch äußere Faktoren wie Unfall oder Krankheit sterben kann. Ihre Vorstellungen vom Tod sind zwar noch unklar, dennoch ist ein zunehmendes Interesse an körperlichen, biologischen und sachlichen Aspekten des Todes zu beobachten. Das „Nicht-Mehr-Da-Sein“ verstehen sie als eine andere Art von Existenz. Selbstproduzierte Schuldgefühle spielen eine immer größere Rolle in der Gefühlswelt des Kindes. Beim Verlust eines Elternteils ist die Sorge um die verbleibende Bindungsperson oft mit viel Angst besetzt. Da Kinder in dem Alter noch keine logische Reflexionsmöglichkeit haben, fühlen sie sich oft schuldig am Tod der nahestehenden Person – etwa, weil sie ihr vielleicht im Streit mal den Tod gewünscht haben. Häufig stellen sich die Kinder beispielsweise vor, dass ein Verstorbener bzw. eine Verstorbene im Sarg unter der Erde friert. Auch haben sie zunehmend Angst, dass Menschen, die sie umsorgen, plötzlich sterben könnten. Jetzt ist es wichtig, diesen Aspekt der Schuldgefühle liebevoll beobachtend im Blick zu behalten. Die Kinder müssen immer wieder bewusst davon freigesprochen werden. Es gilt, alle Gefühle und Äußerungen des Kindes ernst zu nehmen. Jetzt ist Geduld gefragt. Nehmen Sie sich bewusst den Raum und die Zeit, die das Kind nun benötigt.

 

Beispiele aus der Kita: Reaktionen von Kindern auf den Tod

Die folgenden zwei Praxisbeispiele zeigen eindrücklich die Gefühlswelt und entwicklungsbedingte Reaktionen von Kindern im Kita-Alter angesichts des Todes. Der Autor Detlef Bongartz beschreibt außerdem, wie er die Kinder jeweils begleitet hat.


Praxisbeispiel 1: Ich bin schuldig am Tod meiner Erzieherin

Der sechsjährige Theo hatte eine heftige Auseinandersetzung mit seiner Erzieherin wegen des alltäglichen Aufräumens. Er war so wütend auf seine Erzieherin, dass er ihr den Tod wünschte. „Du sollst tot sein“, schrie er sie an und verschwand im Nebenraum. Auch das gütige Zureden der Erzieherin hatte keinen Erfolg. Zwei Wochen später ereilte die Kita die schreckliche Nachricht, dass diese Erzieherin mit ihrem Fahrrad tödlich verunglückt sei. Als Theo das hörte, schrie er und war völlig verzweifelt. Durch die intensive Begleitung wurde deutlich (er konnte es eines Tages ausdrücken), dass sich Theo schuldig fühlte. Da Kinder in dem Alter noch keine logische Reflexionsmöglichkeit haben, war es für ihn vollkommen klar, dass sein damals ausgesprochener Wunsch die Erzieherin hat sterben lassen.

Trauerbegleitung: In der Begleitung von Theo war es wichtig, ihm „seinen“ Raum und „seine“ Zeit zu lassen, die er brauchte, um einerseits Vertrauen zu mir aufzubauen und andererseits seine eigenen Schuldgefühle zum Ausdruck zu bringen. Erst in vielen Spielsequenzen konnte Theo annähernd vermittelt werden, dass ihn keine Schuld trifft. Trauerbegleitung bedarf Geduld. Ein wesentlicher Aspekt auf diesem Weg bestand darin, jede Woche einmal mit ihm an den Ort des Unfalls seiner Erzieherin zu gehen und den realen Unfallhergang zu beschreiben. Hierbei wurde nicht seine „Unschuld“ in den Vordergrund gestellt, sondern nur die Realität klar benannt. Dem eigenen inneren Prozess des Kindes hin zum emotionalen Verstehen kann in der Regel Vertrauen geschenkt werden. In diesem Fall hat es geklappt.


Praxisbeispiel 2: Ich hasse meinen Papa

Die fünfjährige Lea grub im Sandkasten immer wieder ein tiefes Loch, schmiss eine Holzfigur hinein und schaufelte Sand darüber. Dabei war sie sehr wütend und sagte immerzu: „Warum bist du weg? Ich hasse dich!“ Manchmal ließ sie mich im Spiel als „Bestatter“ die Figur imaginär „vierteilen“ und zur Figur hingewandt sagte sie: „Du bist böse“. In der Folgezeit gab mir Lea weiterhin vor, welchen Text ich zu sprechen habe und wie ich meine zugewiesene Rolle umzusetzen habe. Ich ließ mich darauf ein und erfuhr somit eine Menge über ihr Gefühlsleben. Lea hatte ihren Vater durch einen Unfall verloren. Sie liebte ihn sehr und war vollkommen wütend auf ihren Papa, der sie einfach „allein gelassen“ hat.

Trauerbegleitung: Der Unfallhergang spielte jetzt eine untergeordnete Rolle. Wichtig war nun, den ausgedrückten Schmerz ernst zu nehmen und die Rolle so lange mitzuspielen, bis Lea ihre Trauer ausgedrückt hatte und sie wieder andere Gefühle zulassen konnte. Nach einigen Spielsequenzen, die immer gleich verliefen, gestaltete sie im Spiel eine ganz liebvolle und bis ins kleinste Detail bedachte Trauerfeier. Für Kinder ist es wichtig, sich in ihrer Sprache ausdrücken zu dürfen. Sie brauchen Menschen, die ihre Sprache verstehen und auch sprechen können. Gefühle und Gedanken spiegeln sich im Spiel, in gemalten Bildern und erfundenen Geschichten wider. Bewertungen („Sie hat ihren Vater nicht geliebt, weil sie sehr deutlich ihre Wut ausgedrückt hat.“) sind vollkommen deplatziert und drücken nur Unverständnis auf der „erwachsenen Ebene“ aus. Ihre Wut richtete sich nicht gegen den Vater, sondern gegen die Tatsache, dass der geliebte Papa nicht mehr da war.


Detlef Bongartz, Diplom-Heilpädagoge, Physiotherapeut und Supervisor DGSv; arbeitet als Referent, Berater und Familientrauerbegleiter; Gründungsmitglied des Bundesverbades Trauerbegleitung e.V.; Leiter des Instituts Merlinos; www.merlinos.de

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