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Wie diese Erfahrungen eindrücklich schildern, wachsen Kinder von Anfang an in eine bestimmte Kultur mit ihren Routinen, Überzeugungen und Werten hinein. Babys in kamerunischen Dörfern werden in der Regel bereits am ersten Tag durch viele Arme gegeben und erleben die Bedeutung der (familiären) Gemeinschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl des komplexen sozialen Netzwerks. Ganz anders bei uns: Typisch deutsche Mittelschichtbabys haben viel exklusive Zeit mit der Mutter beziehungsweise den Eltern und die wohldosierten Besucher:innen zeigen sich zurückhaltend und respektvoll gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen der Eltern und des Kindes. Unbewusst lernen die Kinder durch den alltäglichen Umgang Rituale und soziale Umgangsformen, erwerben gesellschaftliche und kulturelle Werte und Normen und verinnerlichen, wie Individuum und Gruppe zueinander stehen.
Dieser Prozess wird Enkulturation genannt und beginnt sogar schon vor der Geburt. Denn bereits im Mutterleib erfährt das Ungeborene den Rhythmus der mütterlichen Bewegungen und Aktivitäten, spürt Berührungen, hört Sprache und Musik und bekommt über das Fruchtwasser erste Eindrücke von den Ernährungsgewohnheiten. Nach der Geburt wirkt dieser Prozess kontinuierlich weiter, und so unterscheiden sich die kulturellen Erfahrungen von Säuglingen: hinsichtlich der Anzahl und Intensität sozialer Kontakte, des Ausmaßes von Körperkontakt und körperlicher Stimulationen, der an sie gerichteten Sprache und Aufmerksamkeit, der Schlafarrangements, der Verfügbarkeit kindspezifischer Transport- und Ausstattungsmittel, der Ernährung u. v. m. Ergänzt werden diese unbewussten Sozialisationserfahrungen durch explizite Erziehungsbemühungen des sozialen Umfeldes, die die Erziehungs- oder Sozialisationsziele der jeweiligen Gemeinschaft widerspiegeln.
Diesbezüglich können bspw. Eigenständigkeit und Individualität, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit oder aber Gehorsam und Respekt gegenüber Älteren, Fürsorge und soziale Harmonie im Fokus stehen. Die Erwartungen an die kindliche Entwicklung, die Akzeptanz kindlicher Verhaltensäußerungen sowie die Verstärkung oder Unterbindung bestimmter kindlicher Verhaltensweisen leiten sich aus diesen Zielen ab. So erklärte mir die Mutter eines dreimonatigen Nso-Babys, dass sie bewusst nicht auf den Blickkontakt und die Interaktionsversuche ihrer Tochter reagiere, damit diese sich nicht zu eng an sie binde und offen für alle anderen Sozialpartner: innen bleibe (die Nso sind eine im nordwestlichen Grasland Kameruns lebende Volksgruppe). Eine euro-amerikanische Mittelschichtmutter aus Los Angeles eines ebenfalls dreimonatigen Babys erläuterte hingegen in einem Interview, dass Babys auch mal Zeit für sich bräuchten, um ihre Unabhängigkeit zu entwickeln und für sich selbst entscheiden zu können (vgl. Keller 2011).
Wenn die Kinder in die Krippe kommen, bringen sie also bereits eine (lange) Reihe kultureller Erfahrungen mit, haben erste kulturelle Werte und Normen internalisiert, ihr (Interaktions-) Verhalten daran angepasst und entsprechende Kompetenzen entwickelt. Auch die Eltern und Familien verfügen über bestimmte kulturelle Erwartungen an die Krippe, wie ihr Kind dort betreut und versorgt und in seiner Entwicklung unterstützt werden soll. Diese müssen nicht zwangsläufig mit den pädagogischen Vorstellungen der Einrichtung übereinstimmen. Wachsende kulturelle Vielfalt geht dabei nicht nur auf die steigende Zahl von Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund zurück (im Jahr 2020 hatten in Deutschland 40 % aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund), sondern neben der Zuwanderung spielen auch zunehmende gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und eine Ausdifferenzierung von Milieus eine Rolle. Die Krippe stellt daher als erste institutionelle und familienergänzende Form der Kindertagesbetreuung einen bedeutsamen Ort der interkulturellen Begegnung dar.
Frühkindliche Bildung verfolgt in Deutschland in der Regel autonomieorientierte Erziehungsziele und eine kindzentrierte Grundorientierung. Dies spiegelt sich sowohl in den Orientierungs- und Bildungsplänen der Bundesländer als auch Konzepten der einzelnen Einrichtungen und auch den Aussagen von pädagogischen Fachkräften wider (vgl. Borke 2017; Bossong 2017). Damit ist die frühkindliche Bildung insgesamt auf hochgebildete Mittelschichtfamilien ohne Migrationshintergrund ausgerichtet, die diese kulturellen Vorstellungen teilen. Viele andere Familien, insbesondere solche mit Migrationshintergrund und/oder niedrigerer formaler Bildung, finden ihre Werte und Ideale nicht gleichermaßen repräsentiert in der Kita (vgl. Bossong 2017). Sie verfolgen stärker verbundenheitsorientierte Erziehungsziele, präferieren strukturierte Spiel- und Lernsituationen und legen einen stärkeren Fokus auf das physische Wohlergehen und die körperliche Unversehrtheit der Kinder. Diese unterschiedlichen Überzeugungen und Erwartungen können zu kulturellen Missverständnissen führen, aber auch dazu, dass institutionelle Kindertagesbetreuung nicht in gleichem Umfang in Anspruch genommen wird und dadurch Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder ungleich verteilt sind. Damit sich alle Kinder und Familien gleichermaßen in der Krippe willkommen und wohl fühlen und bestmöglich in ihrer Entwicklung gefördert werden, braucht es interkulturelle Kompetenz.
Eine zentrale Voraussetzung für interkulturelle Begegnung und gelingende interkulturelle Kommunikation bildet die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Orientierungsrahmen und der eigenen kulturellen Identität. Oftmals wird uns diese erst im Kontakt mit dem Fremden, im Kontrast zu anderen Werten, Normen und Verhaltensweisen bewusst. Wie die Säuglinge und Kleinkinder, die zu uns in die Krippe kommen, hat auch jeder und jede von uns im Zuge der eigenen Sozialisation kulturelle Werte und Normen, zu großen Teilen unbewusst, internalisiert. Gerade in Bezug auf kindliche Entwicklung und Erziehung haben sich daraus scheinbar unumstößliche Wahrheiten und Annahmen über vermeintlich einzig richtige Verhaltensweisen entwickelt. Auch unsere professionellen Überzeugungen sind davor nicht gefeit, denn auch die pädagogische und entwicklungspsychologische Theorieentwicklung und Forschung sind vom kulturellen Hintergrund der Wissenschaftler:innen beeinflusst.
Wie der kulturvergleichende Blick jedoch zeigt, gibt es nicht den einen universellen Entwicklungsverlauf oder den einen richtigen Weg in der Erziehung. Während beispielsweise nahezu alle Nso-Kinder im Alter von sechs Monaten frei sitzen können, beherrschen dies nur ca. 12 % der Gleichaltrigen in der deutschen Mittelschicht (vgl. Lohaus u. a. 2011). Letztere hingegen können sich in diesem Alter mehrheitlich selbstständig vom Rücken auf den Bauch drehen (54 %), was wiederum lediglich 11 % der Nso-Kinder bewältigen. Das Erreichen dieser Entwicklungsmeilensteine spiegelt die jeweiligen kulturellen Überzeugungen wider. Deutsche Eltern werden von Expert:innen darin bestärkt, dass Babys viel liegen, zur selbstständigen Bewegung angeregt und auf keinen Fall hingesetzt werden sollten, solange sie diese Position nicht von selbst erreichen. Im Gegensatz dazu halten NsoMütter zu viel Liegen für äußerst gefährlich, da es eine Steifheit der Gelenke und Schwächung des Rückens mit sich bringe, und setzen ihre Babys in gepolsterte Wannen, Eimer oder Erdlöcher, um das Sitzen zu trainieren.
Sich darüber bewusst zu werden, dass die eigene Kultur und die damit verbundene Sichtweise nur eine von vielen möglichen darstellt, ist ein erster und entscheidender Schritt auf dem Weg zu interkulturellem Austausch auf Augenhöhe. Dafür ist die Bereitschaft notwendig, die eigenen (emotionalen) Reaktionen zu hinterfragen. Erst wenn mir selbst klar wird, warum mir bestimmte Sachen vor meinem kulturellen Hintergrund so wichtig sind und mich bestimmte Verhaltensweisen so stören oder irritieren, wird es möglich, wirklich offen und neugierig und vor allem ohne vorschnelle Bewertung auf alternative Verhaltensweisen zu blicken. Dann bin ich bereit, dem Gegenüber meine eigenen Handlungen zu erklären und die Handlungen des Gegenübers vor seinem/ ihrem kulturellen Hintergrund zu verstehen. Auf Grundlage dieser Haltung kann sich interkulturelle Kompetenz entwickeln.
Dr. Bettina Lamm (Diplom-Psychologin) ist Geschäftsführerin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung.
Borke, J. (2017): Der interkulturelle Ansatz in den Bildungsund Orientierungsplänen. Ein Rahmen zur individuellen Ausgestaltung und konkreten Umsetzung. In: Lamm, B. (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Kompetenz. Kultursensitive Arbeit in der Kita. Freiburg: Herder, S. 109–121.
Bossong, L. (2017): Kulturell divergierende Vorstellungen von Erziehung, frühkindlicher Bildung und Betreuung in deutschen Kindertageseinrichtungen. Die Perspektiven von pädagogischen Fachkräften und von Müttern aus unterschiedlichen ökosozialen Kontexten. Universität Osnabrück. https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:gbv:7002017091316268
Keller, H. (2011): Kinderalltag. Heidelberg: Springer. Lohaus, A./Keller, H./Lamm, B. (2011): Infant development in two cultural contexts: Cameroonian Nso farmer and German middleclass infants. Journal of Reproductive and Infant Psychology, 29 (2), S. 148–161.
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