Die Kinder erleben Sprache sinnlich
Die großartigen Fähigkeiten der Kinder erlebe ich, wenn ich sehe, wie empathisch sie mitmachen und wie genau sie Nuancen meiner Gesten nachahmen und dabei intuitiv deren Ausdruck und die damit verbundene Empfindung verstehen. Trotz ihrer äußerlichen Verträumtheit nehmen sie blitzwach kleinste Details wahr und bemerken feine Untertöne in meiner Sprache. Sie erfreuen sich mehr als Erwachsene am Klang der Sprache und verstehen oft mehr durch unsere Gestik und unseren Tonfall, was wir ihnen sagen. Sie erleben Sprache viel sinnlicher, noch nicht getrennt von der körperlichen Geste.
Dadurch können die Kinder unmittelbar nachvollziehen, dass die Eurythmie-Bewegungen primär den Klang der Sprachlaute oder Worte nachvollziehen und sich nur sekundär am gedanklichen Inhalt orientieren. Das Wort klopfen fordert beispielsweise durch das dominante K eine kräftige, harte, konturierte Bewegung. Das M im Wort Murmeln dagegen hat einen viel weicheren, empathischeren Bewegungscharakter. So gebe ich der klopfenden Bewegung also einen K-Charakter und gestalte ein „Murmeln“ aus der M-Gebärde. Die Eurythmie hat für jeden Laut eine charakteristische Gebärde, die sich vielseitig variieren lässt. Außerdem umfasst sie ein umfangreiches System, das alle weiteren prosodischen und sogar grammatikalischen Anteile der Sprache in Bewegungen übersetzt.
Das Wort „Packpapier“ wird zum Kita-Hit – das Wort „Gemurmel“ zur wahren Herausforderung
Aus diesen eurythmischen Grundgesten, wie z. B. den Lautgebärden, entwickele ich meine kleinen Choreografien, beachte dabei aber immer, wann mein Angebot bei den Kindern Resonanz findet, wann es sie zum Mitmachen motiviert. So hatten sie z. B. das Wort Packpapier, verbunden mit einer dreifachen P-Geste, besonders gern. Sie mussten sogar darüber lachen wie über einen Witz.
Eine kleine Situation mag veranschaulichen, wie diese Resonanz auch aussehen kann: „Was ist das für ein Gemurmel, was ist das für ein Geraune …?“ war eine Zeile aus einem Gedicht über eine Frühlingszwiebel, die in der Erde langsam erwacht und sich fragt, was da draußen wohl schon alles vor sich geht. Die Kinder hockten mit mir dabei auf dem Boden, hörten interessiert zu und ahmten etwas verträumt meine murmelnde M-Bewegung nach. Diese Geste war für sie noch etwas ungewohnt und nicht ganz leicht auszuführen. Vor allem eine Gegenbewegung meiner Hände war dabei eine kleine Herausforderung. Deshalb probierten sie länger herum, um sie genau wie ich zu gestalten. Ich gab ihnen deshalb Zeit und wiederholte die erste kleine Frage ein paarmal.
In diesem Moment konnte ich ganze Fantasiegeschichten in ihren Augen lesen. Jedes Kind schien seine eigene Geschichte zu erleben. Aber bei allen schien sie irgendwie geheimnisvoll zu sein. Viele Kinder kannten das Wort Gemurmel wohl noch nicht. Sie brauchten Zeit, um seine ungewöhnliche Lautmalerei gefühlsmäßig zu ergründen und um langsam zu erahnen, was wohl damit gemeint sein könnte. So blieben sie relativ lange konzentriert bei der Sache. Dabei waren die Gebärden zwar eine Herausforderung, andererseits schienen sie aber auch eine Hilfe zu sein, die neuen Worte erstmals zu verstehen. Solche Momente zeigen mir, dass meine Bewegung sie zu eigener Aktivität anregt. Außerdem merke ich immer wieder, welch sinnliche, künstlerische Erlebnisfähigkeit Kleinkinder für Sprache haben können.
Und ganz nebenher lernen die Kinder auch noch viele Basics für die Schule
Unser Erziehungsangebot soll den Kindern helfen, ihre Entwicklungsschritte gründlich – und dadurch nachhaltig – zu machen. So möchte ich durch differenzierte und vielfältige Bewegungen des ganzen Körpers, Grob- und Feinmotorik sowie Koordination, Geschicklichkeit und Rhythmusgefühl der Kinder fördern. Als ganzheitliche Methode bezieht die Eurythmie viele Sinne aktiv mit ein, vom Gleichgewichtsund Eigenbewegungssinn bis zum Sehen und Hören. Die Kinder üben außerdem, ihre Aufmerksamkeit gezielt nach außen zu richten und dabei trotzdem gut bei sich zu bleiben, denn die eigene Bewegung vermittelt ihnen gleichzeitig Selbstwahrnehmung – eine Grundkompetenz, die sie in der Schule brauchen – genauso wie die Fähigkeit, sich eigenständig in einen Gesamtzusammenhang einzufügen.
Auf sprachlicher Ebene unterstützt die Eurythmie die Lautdifferenzierung, die ja eine der entscheidenden Voraussetzungen ist, um schreiben zu lernen. Auch kann sie dazu beitragen, den Wortschatz zu erweitern. Vor allem möchte ich aber, dass die Kinder Freude an der Sinnlichkeit der Sprache haben und erleben, dass Sprache Ausdruck des ganzen Körpers ist.
Tille Barkhoff ist freiberufliche Eurythmistin aus Hamburg.
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