Frau Stadler, gibt es eine gerechte Kita?
Sabrina Stadler: Das ist die große Frage. Wir haben im Team kürzlich lange darüber gesprochen. Unterm Strich waren wir uns einig: Die gerechte Kita gibt es nicht. Zwar versuchen wir in unserer Arbeit, in unserer Haltung Gerechtigkeit zu erreichen und zu pflegen – aber dass alles zu jeder Zeit gerecht ist, wird kaum zu erreichen sein.
Warum nicht?
Weil Gerechtigkeit ein Wert ist, der schwer einzugrenzen ist. Wir haben Definitionen gesammelt und hatten am Ende unendlich viele. Es gibt keine hieb- und stichfeste Definition. Das macht es schwierig. Jeder hat seine eigene Idee von Gerechtigkeit und sein eigenes Empfinden dazu. Das ist für mich der Knackpunkt. Wenn ich etwas als gerecht ansehe, muss mein Gegenüber das noch lange nicht tun.
Was bedeutet Gerechtigkeit für Sie?
Gerechtigkeit besteht für mich aus vielen Faktoren. Ich versuche, nicht nur in einer bestimmen Situation gerecht zu sein, sondern in meiner ganzen Haltung. Das fängt in der Früh an, wenn ich in die Kita komme, indem ich jedem guten Morgen sage. Das sind so Kleinigkeiten, die unterbewusst geschehen, die aber eine Grundhaltung zeigen. Gerechtigkeit hat für mich mit Empathiefähigkeit zu tun, mit Toleranz, mit der Individualität jedes Menschen, die ich berücksichtigen muss. Und mit einem Fokus auf Gleichbehandlung. Jede und jeder in meinem Team muss die gleichen Möglichkeiten haben, was etwa Arbeitszeiten, Urlaubsplanung, Weiterbildung betrifft. All das hat natürlich auch viel damit zu tun, was ich selbst schon erlebt habe, wie ich groß geworden bin. War das ein gerechtes Umfeld?
Gerechtigkeit heißt für Sie also auch: für alle das Gleiche. Lässt sich das den ganzen Tag über durchhalten?
Das ist schwierig – aber das sollte der Ansatz sein. Wenn ich das mal nicht schaffe, ist mir aber keiner böse, weil meine gesamte Grundhaltung eben nach Gerechtigkeit strebt. Das hat mit dem funktionierenden Miteinander zu tun. Und Gerechtigkeit wird meiner Erfahrung nach auch erst ein Thema, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Vorher denkt man wenig darüber nach.
Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse, da wird es oft schwer mit der Gleichbehandlung, oder?
Nicht unbedingt. Ich suche für jedes Kind den Ansatz, der individuell passt. Bei einem Kind, dessen Eltern nicht aus Deutschland stammen und das neu in der Kita ist, suche ich einen anderen Ansatz als bei einem Kind, das schon seit einem Jahr eingewöhnt, also im System schon gut etabliert ist. Ich stelle jedes Kind in seiner Individualität in den Mittelpunkt und überlege: Was braucht es gerade? Dann behandle ich ja jeden gleich – und zwar gleich gut. Das machen wir bei den Kindern so, beim Team, beim Träger.
Da sind wir wieder bei der Empathie …
Ja. Auch Toleranz gehört dazu. Das sind für mich alles keine eigenständigen Begriffe, sondern vielmehr verschwimmt alles miteinander und gehört zusammen. Das muss als Symbiose funktionieren.
Sie sagten, dass Gerechtigkeit Thema wird, wenn sich jemand ungerecht behandelt fühlt. Wann ist das bei Ihnen in der Kita der Fall?
Beim Thema Urlaubsplanung. Wir sind ein 20-köpfiges Team, auf zwei Häuser verteilt – da ist es nicht einfach, jedem seinen Wunschtermin möglich zu machen. Gerade wenn es um die ersten Schritte bei der Planung geht, fällt da schon hin und wieder der Begriff „ungerecht“, wenn etwa Mitarbeiterinnen ohne Kinder gerne in den Schulferien Urlaub machen möchten. Da kämpft natürlich jeder für sich. Das ist das Thema bei uns, bei dem am meisten Egoismus zu spüren ist. Gerecht bedeutet hier ganz klar: den eigenen Bedürfnissen entsprechen.
Wann ist Gerechtigkeit für die Eltern besonders wichtig?
Durch Corona gibt es in der Elternarbeit derzeit ganz neue Facetten – sei es eine Videokonferenz oder ein Spaziergang, bei dem dann das Elterngespräch geführt wird. Wir haben unser Blickfeld hier erweitern dürfen. Auch in Sachen Gerechtigkeit. Vorher waren wir, ich möchte fast sagen: starrsinnig bei manchen Themen. Es gibt ein Elterngespräch und fertig. Hier sind die Termine, die finden bei uns statt, ihr müsst einen Babysitter engagieren. Das war wenig gerecht. Wir haben vorausgesetzt: Die Eltern finden jemand, der nach den Kindern schaut. Wenn man da, wie jetzt, genau nachfragt, stellt man fest: Um 14.30 Uhr oder um 16 Uhr, wenn das Gespräch stattfindet, haben die Eltern oft keinen Babysitter. Und es ist für sie ein Riesenaufwand, das alles zu organisieren. Und jetzt, mit der Videokonferenz, ist das viel einfacher. Die kann auch mal um 19.30 Uhr sein, jeder ist daheim, die Kinder im Bett.
Wollen Sie das weiterführen – Elterngespräche per Videokonferenz?
Wenn’s nach mir geht: Ja! Ich bin absoluter Fan der digitalen Welt. Klar ist das nicht immer einfach, wenn es um Kinder geht, die sich besonders entwickeln und man deshalb auch ein besonderes Gespräch braucht. Hier fehlt mir dann die persönliche Ebene in einer Videokonferenz. Aber sonst ist das ein wunderbares Hilfsmittel und mein Team schätzt das auch. Nicht jeder ist hier so offen, klar. Aber viele mögen es, dass sie nicht in der Kita Wartezeiten bis zu einem Elterngespräch überbrücken müssen, sondern einfach nach Hause gehen können und sich dann zum Termin an den Computer setzen. Es wird in Zukunft bei uns ein Angebot bleiben, genau wie die Spaziergänge am See, aber es ist kein Muss. Nicht für meine Mitarbeitenden und nicht für die Eltern.
Das Thema Gerechtigkeit hat sich also mit Corona verändert?
Absolut. Das spüren wir auch bei den Eltern. Da kippte die Stimmung zum Beispiel während der Notbetreuung und den mehr oder weniger schwammigen Kriterien dafür. Da fühlten sich schon einige bei uns ungerecht behandelt und fragten sich: Warum dürfen die kommen und wir nicht? Es war schwierig für uns, damit umzugehen. Wir haben den Eltern einfach immer versichert: Wir machen das so, wie die Kriterien und Richtlinien uns vorgeben. Viele Familien akzeptieren das, dann gibt es aber ein paar, die sehr kritisch hinterfragen. Geht man mit diesen ins Gespräch, lässt sich meist alles gut erklären. Und dann gibt es ganz wenige, die sehr hartnäckig sind und über alle Wege versuchen, zum Zuge zu kommen – sei es über Rechtsanwalt oder Bürgermeister.
Klarheit von Regeln ist also sehr wichtig, nicht nur bei Corona?
Ja. Regeln bestimmen unseren Alltag, unser Zusammenleben. Hier gibt es die Regeln, die intern im Gremium bestimmt wurden, und dann gibt es die Regeln von außen, die wir umsetzen müssen, wie diejenigen für die Notbetreuung, die für uns eigentlich detaillierter geregelt gehört hätten. Wir haben das Glück, dass wir eine Trägerschaft haben, die uns sehr gut unterstützt und den Rücken stärkt. Wir bekommen hier Handlungskonzepte an die Hand und es ist klar: In Kressbronn handeln alle gemeindlichen Kindergärten gleich, nicht nur bei Corona. Damit sind wir wieder bei der Gerechtigkeit.
Was sind denn die typischen Konflikte mit dem Träger?
Zum Glück gibt es nur wenige. Ein großes Thema war aber eine Zeit lang die Bezahlung der Leitung, die sich ja nach der Anzahl der Kinder richtet. Wir haben hauptsächlich Krippenkinder, ich hab dadurch natürlich viel weniger Kinder als eine Einrichtung mit dieser Größe mit Kindergartenkindern. Ich sag aber: Ich habe gleich viel Personal und gleich viel Arbeit. Das war ein großes Gerechtigkeitsthema, das wir aber gut lösen konnten für alle Beteiligten – obwohl uns der Tarifvertrag nicht viele Möglichkeiten gibt. Anlass für Diskussionen ist natürlich auch immer das Budget fürs Haus. Auch hier entscheidet die Kinderzahl und es ist kein Fixbetrag mehr. Da ist viel passiert und wir konnten auch hier zum Glück gute Lösungen finden.
Wie gehen Sie damit um, wenn Kinder etwas ganz anderes für gerecht halten als Erwachsene?
Das war im Team ein riesiges Thema und wir haben eine ganze Sitzung darüber geredet. Und wir mussten über einiges schmunzeln. Zum einen ist uns aufgefallen, dass man viele Sachen einfach so abtut. Man sagt: Ach, das ist jetzt einfach so. Der ideale Weg ist aber natürlich der, dass wir das Kind ernst nehmen. Es hat ja in der Situation einen festen Gedanken, ist von etwas überzeugt. Es ist wichtig, dem Kind hier seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, sich seine Sichtweise genau anzuhören und zu hinterfragen, warum das Kind jetzt davon überzeugt ist. Leider kommt das im Alltag manchmal etwas zu kurz, weil Zeit natürlich eine große Rolle spielt. Wenn ich in die Kindergartengruppe gucke, sind Regeln immer ein großes Thema: Warum darf der andere das und ich nicht? Hier spielt das detaillierte Erklären eine große Rolle. Und am Ende suchen wir den Kompromiss, mit dem wir alle leben können. Bei den Krippenkindern ist es so, dass der Egoismus entwicklungsbedingt sehr groß ist. Sie verstehen oft nicht, warum sie ein Spielzeug hergeben sollen. Für die Kinder ist das nicht immer nachvollziehbar. Hier versuchen wir, so viel Spielzeug wie möglich doppelt zu haben, damit die Kinder nicht teilen müssen, weil sie es noch nicht können. Wir gehen sogar so weit, dass wir Dinge in der gleichen Farbe kaufen – also etwa zehn rote Bälle und nicht Bälle in verschiedenen Farben. So können wir Streitigkeiten unter den Kindern vermeiden.
Dürfen die Kinder am Aushandeln von Regeln teilhaben?
Durchaus. Es gibt natürlich feste Vorgaben – in Sachen Unfallschutz etwa –, aber es gibt Dinge, die wir mit den Kindern gemeinsam bestimmen. Im Kindergartenbereich etwa mussten wir durch Corona vom offenen Konzept abrücken und haben geschlossene Gruppen. Da haben wir mit den Kindern besprochen: Wo kommt was hin? Welche Kinder dürfen wo spielen? Welche Regeln gibt es? Die Kinder mögen das. Und die Regeln, die sie selbst mitbestimmen durften, nehmen sie eher an, die haben sie richtig verinnerlicht – auch wenn es mal etwas ist, was sie nicht wollen. Denn: Sie wurden ja vorher gefragt. Das ist ja bei Erwachsenen nicht anders. Wenn mein Team etwas mitentscheiden darf, dann ist ein anderes Standing dahinter als bei einer Entscheidung, die sie nicht mittragen konnten.
Partizipation spielt also eine wichtige Rolle auf dem Weg zur gerechten Kita. Was gehört noch dazu?
Ich muss mein Gegenüber als besonderes Individuum sehen. Dann kann ich Gerechtigkeit herstellen. Auch wenn das ganz schön schwerfallen kann. Ich muss also bereit sein, meine Einstellung zu überdenken und meine Wohlfühlzone zu verlassen.
Gerechtigkeit ist das eine. Kann eine Kita Chancengleichheit schaffen?
Das muss unser Ansatz sein in der Pädagogik. Es ist mühevoll und schwierig, Aber es muss klar sein: Was ich Familie A ermögliche, muss ich auch Familie B ermöglichen. Es fängt bei den Anmeldegesprächen an. Hier muss ich jeder Familie das gleiche Recht einräumen und für alle gleich viel Zeit haben. Das geht hin bis zum Abschlussgespräch – der Zeitfaktor muss für alle gleich sein. Und es ist meine Aufgabe, das einzuplanen.
Müssen Sie als Leitung ein Machtwort sprechen, wenn die Vorstellungen von Gerechtigkeit zu weit auseinandergehen?
Das ist die Aufgabe der Leitung, ganz klar. Tatsächlich muss ich das in meinem Team sehr, sehr selten. Bei uns wird viel kooperativ entschieden. Es ist anstrengend, sich 19 Meinungen anzuhören. Aber es funktioniert. Ein echtes Machtwort musste ich noch gar nie sprechen – auch wenn es hin und wieder heiße Diskussionen gibt. Ich denke, das steht und fällt mit dem Führungsstil. Es wäre sicher einfacher zu sagen: Wir machen es jetzt so und so und fertig. Aber bei uns wird so viel wie möglich gemeinsam entschieden. Und das kostet Kraft.
Sabrina Stadler (33) ist ausgebildete Erzieherin, Fachwirtin für Erziehungswesen und leitet seit 2013 die Kita Pünktchen in Kressbronn am Bodensee, die in einer ehemaligen neuapostolischen Kirche untergebracht ist. In der Kita arbeiten 20 Menschen in vier Krippen- und einer Kindergartengruppe, derzeit werden 43 Kinder betreut.
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