22.08.2023
Mareike Gründler

Wir sind jetzt die Ältesten

Angst, Stolz, Freude und Wehmut – im letzten Kita-Jahr fühlen die Kinder so einiges. Wie wird es in der Schule? Schaffe ich das? Auch die Eltern haben viele Sorgen. Unsere Autorin verrät, wie sie auf Fragen und Zweifel reagiert und dadurch die Familien ideal auf den Schulbeginn vorbereitet.

Die Sommerferien sind vorbei. Die Kinder kommen stolz in die Kita. Sie wissen: Wir sind jetzt die Ältesten. Sie interessieren sich für Zahlen und Buchstaben, wollen längere Geschichten hören. Und sie dürfen sich über mehrere Monate hinweg in ein Projektthema vertiefen. „Wir sind absolute Fuchs-Experten“, erklärt Ben.

Das Thema Schule wird Tag für Tag präsenter. Die Grundschule schickt Briefe. Die Kinder sollen angeben, mit wem sie in eine Klasse gehen wollen. Eine Frage, die die Kinder gehörig umtreibt. Dann suchen sie die ersten Schulranzen, Federmäppchen und Turnbeutel aus. Der bevorstehende Wechsel nimmt Gestalt an. Die Kinder dürfen ihre Ausstattung in die Kita mitbringen. Ob neu, gebraucht oder selbstgenäht: Alles wird ausgiebig betrachtet und bewundert. Aufregung und Vorfreude nehmen zu.

Doch es gibt auch Momente, in denen die Kinder mit Wehmut feststellen, dass ihre Zeit in der Kita zu Ende geht. „Das ist mein letzter Geburtstag hier“, stellt Leonie fest. „Ich möchte nochmal fünf werden.“ Und Yunis, eben noch in die Konstruktion einer Garage vertieft, sieht mich plötzlich an: „Wenn ich gehe, werdet ihr mich vermissen.“ Und Noah meint: „Ich kann das alles nicht“, als er mit mir zum letzten Entwicklungstest geht. Angst, Stolz, Freude, Aufregung, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Wehmut – all das begleitet Kinder im letzten Kindergartenjahr.

Bereit für den nächsten Schritt?

Doch nicht nur die Kinder machen sich Gedanken. Auch für die Eltern ist es ein intensives letztes Jahr. Einige suchen längere Tür-und-Angelgespräche, andere wollen ein Elterngespräch. Es geht um die Einschätzung, ob die Kinder bereit für die Schule sind oder ob sie nicht doch noch ein weiteres Jahr in der Kita bleiben sollten. So manchem Kind würde ein Jahr mehr Zeit guttun. Aber die Kitas sind überfüllt, sodass ein weiteres Jahr nur möglich ist, wenn es triftige Gründe dafür gibt. Dazu gehören Entwicklungsrückstände, die in einem weiteren Jahr in der Kita voraussichtlich aufgeholt werden können. Solche Rückstände werden in der Regel bei den U-Untersuchungen oder auch in der Einschulungsuntersuchung (ESU) erkannt und dokumentiert.

Wird ein Entwicklungsrückstand festgestellt, ist die nächste Überlegung, wie man das eine Jahr nutzen kann, um das Kind und auch die anderen Kinder so gut wie möglich auf die Schule vorzubereiten. In diesem Jahr beginnen drei unserer Kinder eine Ergotherapie. Ergotherapeuten können sich noch intensiver um die Kinder kümmern. Sie helfen ihnen zum Beispiel, Strategien zu entwickeln, um sich nicht ablenken zu lassen. Hierfür schreiben wir unsere Beobachtungen und Begründungen für eine Ergotherapie auf, damit die Eltern diese Argumente an den Hausarzt weiterleiten können.

Auch über die ESU, die von einer externen Person durchgeführt wird, machen sich die Eltern Gedanken. Was für Fragen werden gestellt? Können wir zu Hause üben? Soll das Kind von einem Elternteil oder einer Fachkraft zur Untersuchung begleitet werden? Oder verunsichert das die Kinder nur? Auch sehr allgemeine Fragen werden uns gestellt: Was machen wir als Kita, um die Vorschulkinder vorzubereiten? Welche Ängste sind in diesem Alter normal? Mein Kind schreibt Buchstaben spiegelverkehrt: Hat es eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder sogar Legasthenie?

Ein Vater fragt mich während eines Elterngesprächs, wie ich die Leistungen seines Sohnes im Vergleich zur Gruppe einschätzen würde. Druck, Konkurrenz und Unsicherheit bezüglich des bevorstehenden Übergangs in die Schule sind auch bei den Eltern zu spüren. Mit all dem müssen wir uns als pädagogische Fachkräfte auseinandersetzen. Unsere Aufgabe ist es, Eltern mit ihren Sorgen und Ängsten ernst zu nehmen. Zuhören ist wichtig. Woher kommen die Sorgen? Was treibt die Eltern um? In Gesprächen entsteht ein differenziertes Bild vom Kind. Manche Fragen der Eltern lassen sich schnell beantworten. Und manchmal können wir auch schnell auf unsere Eindrücke vom Kind zurückgreifen, um Eltern die Sorgen zu nehmen oder Einwänden etwas entgegenzuhalten. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir die Eltern um etwas Zeit bitten müssen, damit wir die Kinder unter diesem Aspekt noch aufmerksamer beobachten und uns im Team darüber austauschen können.

Auch für Gespräche mit den Eltern kann es hilfreich sein, eine weitere erfahrene Fachkraft oder die Leitung zum Gespräch hinzuzuziehen. Transparent zu arbeiten und gemeinsam mit den Eltern zu überlegen, hilft, Frustration, Wut oder Missverständnisse bei den Eltern, aber auch bei sich selbst abzubauen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Im Gegenteil. Ich habe erlebt, dass diese sensible Zeit die gemeinsame Vertrauensbasis, die wir in den letzten vier Jahren aufgebaut haben, sogar verstärkt hat. Es ist ein gemeinsames Suchen nach dem richtigen Vorgehen, ein gemeinsames Anpacken und ein sich gemeinsam über Erfolge und schöne Situationen mit den Kindern Freuen. Das Teilen von schönen und lustigen Momenten verbindet und nimmt den Druck. Es kommt aber auch so manch nostalgischer Moment auf. Eine Mutter bleibt einmal an der Eingangstür stehen, betrachtet die Kita von außen und sagt, dass sie es vermissen werde, jeden Tag hier zu stehen und mit uns und den anderen Eltern zu plaudern und zu lachen.

Kurz vor knapp

Kinder nehmen die veränderte Stimmung sehr schnell wahr und reagieren instinktiv darauf. Die Arbeit mit den Kindern, das Wahrnehmen und Erkennen ihrer Empfindungen wie auch ihres Erlebens sowie der passende Umgang damit, macht den Hauptteil der Arbeit als Fachkraft aus. Vielen, die in der Praxis arbeiten, ist der Spruch sehr bekannt: „Man merkt, die müssen jetzt in die Schule!“ Dieser Satz ist oft zu hören, wenn eine Meute lauter Vorschulkinder an einem vorbeizieht und die eigenen Grenzen, die eigene Kraft und Durchsetzungsfähigkeit an anderen Kindern sowie Fachkräften testet. Unsere Aufgabe ist es, neue Impulse zu setzen, um den Alltag weiterhin interessant zu gestalten, aber auch Grenzen aufzuzeigen. Dabei ist es wichtig, auf die Wortwahl zu achten. „Ihr seid Vorschulkinder! Das muss jetzt funktionieren!“ oder „In der Schule könnt ihr das auch nicht machen!“ sind Sätze, die Kinder unter Druck setzen können. Sie sind dann unsicher und fürchten sich vor dem, was kommt. Wutanfälle, Weinen, Trotzverhalten oder sofortiges Herumalbern sind Zeichen eines solchen Drucks. In ruhigen Momenten können wir dann mit den Kindern ins Gespräch gehen und ergründen, was sie umtreibt. Über was macht ihr euch Gedanken? Worüber machst du dir Sorgen? Worauf könnt ihr euch freuen? Unterstützt werden können solche Gespräche, indem wir den Kindern vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten bieten:

  • Bilder malen und darüber sprechen,
  • Bilder und Bücher gemeinsam betrachten,
  • Figuren basteln und kleine Theaterstücke entwickeln.

Das sind Möglichkeiten, um die Themen und Emotionen der Kinder zu erkennen und sich mit ihnen zu befassen. Oft sind diese Herangehensweisen sehr wirkungsvoll, da Kinder ihre Themen aus einer anderen Perspektive betrachten und gemeinsam bearbeiten können.

Druck rauszunehmen, bedeutet auch, die Schule nicht zum Dauerthema zu machen. Die Kinder leben im Hier und Jetzt. Kinder haben, wie es der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak formulierte, das Recht auf den heutigen Tag. Das heißt für mich, dass die Interessen der Kinder in gemeinsamen Projekten – sachlich, kreativ-künstlerisch, musisch, spielerisch und durch Bewegung – leitend sind. Bei uns waren das unter anderem das Ritter- und Burgfräuleinprojekt sowie das Fuchsprojekt. In der intensiven Arbeit an diesen Themen haben die Kinder mehr Mathematik, Allgemeinwissen und Sprachförderung erfahren als durch das Ausfüllen von Arbeitsblättern.

Was brauchen Kinder, um in der Schule zu bestehen? Vieles wird neu sein. Sie treffen auf neue Menschen, neue Anforderungen und neue Regeln. Sie müssen mit Unsicherheiten und Niederlagen zurechtkommen. Voraussetzung dafür sind eine soziale und emotionale Reife, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Unsere Aufgabe ist es, das zu fördern, im Alltag und in der Projektarbeit. Das bedeutet auch, sich selbst zu fragen, ob wir gute Vorbilder sind. Wie gehe ich mit Situationen um, die mich frustrieren? Wie unterstütze ich Kinder? Weitere Reflexionsfragen können sein: 

Schulreife – wie wir die Kinder unterstützen können

  • Wie gehen die Kinder miteinander um? Wie gehen sie mit Schwächeren, Stärkeren, Freundinnen und Freunden und der Gruppe um?
  • Wie geht das einzelne Kind mit Situationen um, in denen:
  1. es abwarten muss,
  2. ihm etwas schwerfällt oder es etwas nicht kann,
  3. es von anderen Kindern geärgert oder zurückgewiesen wird,
  4. es von anderen vereinnahmt oder bevormundet wird.
  • Wie können wir die Kinder unterstützen und stärken?
  • Welche Bücher, Bilder oder Spiele gibt es, mit denen Verhaltensweisen der Kinder in oben genannten Situationen aufgegriffen, reflektiert und bearbeitet werden können, ohne jemanden bloßzustellen oder als Täter oder Opfer darzustellen.
  • Wie und wann kann ich Raum und eine Wohlfühlatmosphäre schaffen, um solch schwierige Themen zu besprechen. Was brauche ich dafür?

Im letzten Kindergartenjahr machen die Kinder vor allem im Punkt sozialer und emotionaler Reife große Sprünge. Das zeigt sich vor allem in ihren verbalen Aushandlungsprozessen und dem Gruppenverhalten. So können sie immer besser Streitigkeiten aushalten und schlichten, Lösungen suchen, Kompromisse aushandeln, sich auch mal zurücknehmen und teilen, sich gemeinsam über Erfolge des anderen freuen und sich für andere stark machen, die Hilfe benötigten.

Ein Freund, ein guter Freund

Das Thema Freunde wird oft auch noch einmal groß. Wenn es zuvor noch Jungen- und Mädchenbanden gab, lösen die sich im letzten Kindergartenjahr meist langsam, aber stetig in ihrer strikten Trennung auf. Gemeinsam suchen sie neue Herausforderungen und Spiele. Das Selbstbild der Vorschüler pendelt dabei stetig zwischen „Ich bin schon groß“ und „Aber eigentlich bin ich noch klein“ sowie zwischen „Was kostet die Welt“ und „Ich trau mich nicht“.

Uns fällt auf, dass viele Vorschulkinder sich gegenseitig unterstützten. Vor allem bei unseren Waldausflügen agieren die Kinder als ein Team. Zum Beispiel traut sich ein Mädchen nicht mehr vom Baum herab, obwohl es selbst hochgeklettert ist. Die anderen Kinder versammeln sich unter dem Baum, werfen Seile nach oben, die sie fest machen kann, und sprechen ihr unentwegt Mut zu, bis sie sich hinunter traut. Unten angekommen sagt sie stolz zu mir: „Du musst das aufschreiben und in meinen Ordner tun, damit ich nie vergesse, was ich alles schaffen kann!“ Dieser Satz macht mir noch einmal bewusst, wie wichtig es ist, den Kindern ihre Entwicklung und Erfolge vor Augen zu führen und mit ihnen zu feiern!

Das Schreiben und Vorlesen von Bildungs- und Lerngeschichten bietet hierfür tolle Möglichkeiten. Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, Kindern vor allem im letzten Jahr Möglichkeiten zur Kooperation zu geben und Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie gemeinsam etwas Neues erproben und über sich hinauswachsen können. Besonders unsere Ausflüge in die Natur, zum Bauernhof, aber auch zu verschiedenen Bildungsinstitutionen (zu bekannten und unbekannten Orten) geben hierfür die Gelegenheit. Ebenso können die Kinder spüren, dass wir Fachkräfte ihnen Vertrauen entgegenbringen und ihnen daher die Chance geben, selbstständig Ideen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Interessant ist auch, dass die Kindergruppe – ähnlich wie die Eltern – den Blick zurück sucht. So müssen meine Kollegin und ich immer wieder Geschichten von früher erzählen, als die Kinder noch zwei, drei, vier Jahre alt waren. Am liebsten immer wieder im gleichen Wortlaut. Auch uns Fachkräften gefällt dieses „Spiel“. Gemeinsam erinnern wir uns an all das Lustige und Nennenswerte. Mit Faszination registrieren die Kinder dabei ihre große Entwicklung vom Kleinkind zum Vorschulkind.

Einige Ausflüge führen uns auch Richtung Zukunft – nämlich in die Grundschule und den Hort. Die Besichtigung dieser Einrichtungen tragen ebenfalls dazu bei, dass sich die Kinder sicherer fühlen. Ferner fällt uns Fachkräften dabei eine Thematik bei den Kindern auf, die uns bis dahin völlig entgangen ist. Wo sind die Toiletten? Wie funktioniert hier die Spülung? Wie geht der Wasserhahn an? Den Kindern war das Erkunden der sanitären Anlagen sehr wichtig. Ein kleiner Gedanke mit Blick auf die Schule gilt jedoch auch uns Fachkräften. „Was macht ihr, wenn wir weg sind?“ Oder: „Zu den neuen Zweijährigen müsst ihr ganz lieb sein!“ An ihrem letzten Tag im Kindergarten kommt es zu vielen Umarmungen und der Bekundung: „Wir kommen euch besuchen!“

Wir Fachkräfte können die Kinder guten Gewissens gehen lassen, denn wir wissen: „Ihr könnt alles schaffen!“ Rückblickend betrachtet, haben wir während unseres letzten gemeinsamen Kindergartenjahres den stärksten Gruppenzusammenhalt in unserer altershomogenen Stammgruppe sowie eine der emotional intensivsten Zeiten. Die Kinder brauchen uns Fachkräfte als Wegbegleitende, die ihnen vor Augen führen, was sie bereits geschafft haben, und sich mit ihnen freuen. Sie brauchen uns als Mitforschende, die selbst Spaß haben, Neues zu entdecken, und die Kinder bei ihren Erkundungen unterstützen. Und sie brauchen uns als Bindungspersonen, die ihnen Sicherheit, Wertschätzung und Geborgenheit geben, um sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten zu entwickeln.

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