Kurz vor knapp
Kinder nehmen die veränderte Stimmung sehr schnell wahr und reagieren instinktiv darauf. Die Arbeit mit den Kindern, das Wahrnehmen und Erkennen ihrer Empfindungen wie auch ihres Erlebens sowie der passende Umgang damit, macht den Hauptteil der Arbeit als Fachkraft aus. Vielen, die in der Praxis arbeiten, ist der Spruch sehr bekannt: „Man merkt, die müssen jetzt in die Schule!“ Dieser Satz ist oft zu hören, wenn eine Meute lauter Vorschulkinder an einem vorbeizieht und die eigenen Grenzen, die eigene Kraft und Durchsetzungsfähigkeit an anderen Kindern sowie Fachkräften testet. Unsere Aufgabe ist es, neue Impulse zu setzen, um den Alltag weiterhin interessant zu gestalten, aber auch Grenzen aufzuzeigen. Dabei ist es wichtig, auf die Wortwahl zu achten. „Ihr seid Vorschulkinder! Das muss jetzt funktionieren!“ oder „In der Schule könnt ihr das auch nicht machen!“ sind Sätze, die Kinder unter Druck setzen können. Sie sind dann unsicher und fürchten sich vor dem, was kommt. Wutanfälle, Weinen, Trotzverhalten oder sofortiges Herumalbern sind Zeichen eines solchen Drucks. In ruhigen Momenten können wir dann mit den Kindern ins Gespräch gehen und ergründen, was sie umtreibt. Über was macht ihr euch Gedanken? Worüber machst du dir Sorgen? Worauf könnt ihr euch freuen? Unterstützt werden können solche Gespräche, indem wir den Kindern vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten bieten:
- Bilder malen und darüber sprechen,
- Bilder und Bücher gemeinsam betrachten,
- Figuren basteln und kleine Theaterstücke entwickeln.
Das sind Möglichkeiten, um die Themen und Emotionen der Kinder zu erkennen und sich mit ihnen zu befassen. Oft sind diese Herangehensweisen sehr wirkungsvoll, da Kinder ihre Themen aus einer anderen Perspektive betrachten und gemeinsam bearbeiten können.
Druck rauszunehmen, bedeutet auch, die Schule nicht zum Dauerthema zu machen. Die Kinder leben im Hier und Jetzt. Kinder haben, wie es der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak formulierte, das Recht auf den heutigen Tag. Das heißt für mich, dass die Interessen der Kinder in gemeinsamen Projekten – sachlich, kreativ-künstlerisch, musisch, spielerisch und durch Bewegung – leitend sind. Bei uns waren das unter anderem das Ritter- und Burgfräuleinprojekt sowie das Fuchsprojekt. In der intensiven Arbeit an diesen Themen haben die Kinder mehr Mathematik, Allgemeinwissen und Sprachförderung erfahren als durch das Ausfüllen von Arbeitsblättern.
Was brauchen Kinder, um in der Schule zu bestehen? Vieles wird neu sein. Sie treffen auf neue Menschen, neue Anforderungen und neue Regeln. Sie müssen mit Unsicherheiten und Niederlagen zurechtkommen. Voraussetzung dafür sind eine soziale und emotionale Reife, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Unsere Aufgabe ist es, das zu fördern, im Alltag und in der Projektarbeit. Das bedeutet auch, sich selbst zu fragen, ob wir gute Vorbilder sind. Wie gehe ich mit Situationen um, die mich frustrieren? Wie unterstütze ich Kinder? Weitere Reflexionsfragen können sein:
Schulreife – wie wir die Kinder unterstützen können
- Wie gehen die Kinder miteinander um? Wie gehen sie mit Schwächeren, Stärkeren, Freundinnen und Freunden und der Gruppe um?
- Wie geht das einzelne Kind mit Situationen um, in denen:
- es abwarten muss,
- ihm etwas schwerfällt oder es etwas nicht kann,
- es von anderen Kindern geärgert oder zurückgewiesen wird,
- es von anderen vereinnahmt oder bevormundet wird.
- Wie können wir die Kinder unterstützen und stärken?
- Welche Bücher, Bilder oder Spiele gibt es, mit denen Verhaltensweisen der Kinder in oben genannten Situationen aufgegriffen, reflektiert und bearbeitet werden können, ohne jemanden bloßzustellen oder als Täter oder Opfer darzustellen.
- Wie und wann kann ich Raum und eine Wohlfühlatmosphäre schaffen, um solch schwierige Themen zu besprechen. Was brauche ich dafür?
Im letzten Kindergartenjahr machen die Kinder vor allem im Punkt sozialer und emotionaler Reife große Sprünge. Das zeigt sich vor allem in ihren verbalen Aushandlungsprozessen und dem Gruppenverhalten. So können sie immer besser Streitigkeiten aushalten und schlichten, Lösungen suchen, Kompromisse aushandeln, sich auch mal zurücknehmen und teilen, sich gemeinsam über Erfolge des anderen freuen und sich für andere stark machen, die Hilfe benötigten.
Ein Freund, ein guter Freund
Das Thema Freunde wird oft auch noch einmal groß. Wenn es zuvor noch Jungen- und Mädchenbanden gab, lösen die sich im letzten Kindergartenjahr meist langsam, aber stetig in ihrer strikten Trennung auf. Gemeinsam suchen sie neue Herausforderungen und Spiele. Das Selbstbild der Vorschüler pendelt dabei stetig zwischen „Ich bin schon groß“ und „Aber eigentlich bin ich noch klein“ sowie zwischen „Was kostet die Welt“ und „Ich trau mich nicht“.
Uns fällt auf, dass viele Vorschulkinder sich gegenseitig unterstützten. Vor allem bei unseren Waldausflügen agieren die Kinder als ein Team. Zum Beispiel traut sich ein Mädchen nicht mehr vom Baum herab, obwohl es selbst hochgeklettert ist. Die anderen Kinder versammeln sich unter dem Baum, werfen Seile nach oben, die sie fest machen kann, und sprechen ihr unentwegt Mut zu, bis sie sich hinunter traut. Unten angekommen sagt sie stolz zu mir: „Du musst das aufschreiben und in meinen Ordner tun, damit ich nie vergesse, was ich alles schaffen kann!“ Dieser Satz macht mir noch einmal bewusst, wie wichtig es ist, den Kindern ihre Entwicklung und Erfolge vor Augen zu führen und mit ihnen zu feiern!
Das Schreiben und Vorlesen von Bildungs- und Lerngeschichten bietet hierfür tolle Möglichkeiten. Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, Kindern vor allem im letzten Jahr Möglichkeiten zur Kooperation zu geben und Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie gemeinsam etwas Neues erproben und über sich hinauswachsen können. Besonders unsere Ausflüge in die Natur, zum Bauernhof, aber auch zu verschiedenen Bildungsinstitutionen (zu bekannten und unbekannten Orten) geben hierfür die Gelegenheit. Ebenso können die Kinder spüren, dass wir Fachkräfte ihnen Vertrauen entgegenbringen und ihnen daher die Chance geben, selbstständig Ideen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Interessant ist auch, dass die Kindergruppe – ähnlich wie die Eltern – den Blick zurück sucht. So müssen meine Kollegin und ich immer wieder Geschichten von früher erzählen, als die Kinder noch zwei, drei, vier Jahre alt waren. Am liebsten immer wieder im gleichen Wortlaut. Auch uns Fachkräften gefällt dieses „Spiel“. Gemeinsam erinnern wir uns an all das Lustige und Nennenswerte. Mit Faszination registrieren die Kinder dabei ihre große Entwicklung vom Kleinkind zum Vorschulkind.
Einige Ausflüge führen uns auch Richtung Zukunft – nämlich in die Grundschule und den Hort. Die Besichtigung dieser Einrichtungen tragen ebenfalls dazu bei, dass sich die Kinder sicherer fühlen. Ferner fällt uns Fachkräften dabei eine Thematik bei den Kindern auf, die uns bis dahin völlig entgangen ist. Wo sind die Toiletten? Wie funktioniert hier die Spülung? Wie geht der Wasserhahn an? Den Kindern war das Erkunden der sanitären Anlagen sehr wichtig. Ein kleiner Gedanke mit Blick auf die Schule gilt jedoch auch uns Fachkräften. „Was macht ihr, wenn wir weg sind?“ Oder: „Zu den neuen Zweijährigen müsst ihr ganz lieb sein!“ An ihrem letzten Tag im Kindergarten kommt es zu vielen Umarmungen und der Bekundung: „Wir kommen euch besuchen!“
Wir Fachkräfte können die Kinder guten Gewissens gehen lassen, denn wir wissen: „Ihr könnt alles schaffen!“ Rückblickend betrachtet, haben wir während unseres letzten gemeinsamen Kindergartenjahres den stärksten Gruppenzusammenhalt in unserer altershomogenen Stammgruppe sowie eine der emotional intensivsten Zeiten. Die Kinder brauchen uns Fachkräfte als Wegbegleitende, die ihnen vor Augen führen, was sie bereits geschafft haben, und sich mit ihnen freuen. Sie brauchen uns als Mitforschende, die selbst Spaß haben, Neues zu entdecken, und die Kinder bei ihren Erkundungen unterstützen. Und sie brauchen uns als Bindungspersonen, die ihnen Sicherheit, Wertschätzung und Geborgenheit geben, um sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten zu entwickeln.
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