07.06.2023
TPS Redaktion, Silke Wiest, Heide Grehl

Interview mit Nicole Wilhelm: Woher will die wissen, ob mir kalt ist?

Der Erwachsene fordert, das Kind gehorcht. Diese Zeiten sind vorbei. Zum Glück! Im Interview erzählt uns Nicole Wilhelm, wie wir Kindern helfen können, ihre Bedürfnisse zu erkennen und sich selbst zu mögen – und warum der Personalmangel in den Kitas eine Chance ist.

In Ihrem Buch „Miteinander leben“ schreiben Sie: „Die Gehorsamskultur ist zu Ende.“ Was bedeutet das genau?

Nicole Wilhelm: Das bezieht sich auf einen gesellschaftlichen Wandel: vom Gehorsam zum Verantwortungsbewusstsein. Denn das ist der nächste und auch logische Schritt in der individuellen und sozialen Entwicklung des Menschen. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen auf dem Weg dahin sind, wirklich frei zu denken. Historisch betrachtet kann man das mit der Arbeiter- und der Frauenbewegung vergleichen. Jetzt haben wir wieder einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel und das merken wir vor allem am Verhalten der Kinder. Das heißt: Mit der Forderung nach Gehorsam kommen wir nicht mehr weiter. Früher sagte man: „Setz dich mal grade hin!“ und alle Kinder haben gehorcht. Heute nicht mehr. Und diesen Wandel bemerken Fachkräfte, die schon lange mit Kindern zusammenarbeiten. Die Kinder tun nicht, was wir sagen, nur weil wir erwachsen sind. Den rollenbedingten Gehorsam gibt es nicht mehr. Jetzt stehen wir vor den Fragen: Wie können wir Kinder stattdessen führen? Wie können wir ihre Integrität wahren? Wie können wir dafür sorgen, dass unsere Integrität gewahrt wird? Ein harmloses Beispiel: Wenn wir zu einem Vierjährigen sagen: „Zieh‘ deine Jacke an!“, ist das für uns ein normaler Satz. Nicht aber für den Vierjährigen! Der denkt sich: „Woher will die wissen, ob mir kalt ist?“ Wenn ich darauf bestehe, dass er die Jacke anzieht, bekommt der Vierjährige Stress. Denn er muss jetzt entscheiden: „Gehe ich in den Kampf und widerspreche ich oder gehorche ich und nehme den Erwachsenen damit wichtiger als mich – und verliere so den Kontakt zu mir.“ In diesem Spannungsfeld merkt man den Paradigmenwechsel. Es ist klar: Kinder brauchen Führung. Aber sie haben einen anderen Anspruch an die Qualität von Führung.

Würden Sie dem Kind sagen: Gut, dann keine Jacke?

Ja. Anders sieht es aus, wenn ich einen Ausflug mache. Da kann ich nicht 30 Jacken mitschleppen, falls die Kinder merken: Oh, doch kälter als gedacht. Diese Vorausschau haben Kinder eben nicht. Deshalb wäre es mir wichtig, zu sagen: „Stopf‘ die Jacke in deinen Rucksack, dann hast du sie dabei, falls dir doch kalt wird.“

Ein Kind soll also in Kontakt mit sich und seinen Bedürfnissen sein, oder?

Ja. Ein Kind spürt sich selbst – das soll so bleiben und daraus soll es richtige Handlungen ableiten. Selbstwirksamkeit ist hier ein wesentlicher Faktor. Und diese Eigenverantwortung ist natürlicherweise angeboren. Es kommt in den nächsten Jahren darauf an, dass sie das immer weiterentwickeln. Das tun sie, wenn wir sie dabei nicht stören. Das passiert aber, wenn wir sie zwingen, etwas Warmes anzuziehen, wenn sie nicht frieren. Wir stören das Kind in seiner Entwicklung. Darauf kommt es mir letztendlich an: Wir sollten Kinder ihre natürlichen Potenziale entfalten lassen, indem wir nicht darauf bestehen, dass sie tun, was wir für richtig halten.

Das betonten Sie auch in Ihrem Buch: „Ich kann nicht entscheiden, was ein Kind zu denken hat.“ Denn: Was wird aus diesem Kind für ein Erwachsener? Sicher keiner, der selbstständig denken kann …

Genau. Das sehen wir gerade auch an Instagram. Die Jugendlichen wissen vom Verstand her, dass die Leute dort nur die schönsten und besten Sachen posten. Das Gefühl ist aber ein anderes, nämlich: Ich hocke hier doof rum und die anderen machen Party und haben das beste Leben. Deshalb ist es ein gute Idee für Jugendliche, sich zu fragen: „Tut mir Social Media gut? In welchem Rahmen?“ Und wenn sie dann merken: „Das stresst mich“, ist es wichtig, etwas zu verändern. Kommen wir zurück zu unserem Vierjährigen: Hat er gelernt, sich zu vertrauen? Oder vertraut er mehr den anderen? Um sich zu vertrauen, muss er wissen: Ich kann mich selbst ernst nehmen. Wenn er nur denkt: „Die Erwachsenen werden schon recht haben“, funktioniert das nicht. Deshalb ist es so wichtig, die
Kinder dabei zu begleiten, bei sich zu bleiben. Wenn aber die Beziehungstemperatur sinkt, wenn das Kind nicht macht, was ich will, tut es vielleicht irgendwann, was ich will. Damit verrät es sich aber selbst.

Eltern und Fachkräfte müssen also lernen, den Kindern zu vertrauen, und nicht versuchen, ihnen Entscheidungen abzunehmen …

Ganz genau: Es geht um Vertrauen. Ich muss darauf vertrauen, dass Kinder mit ganz vielen Kompetenzen kommen. Eigenverantwortung etwa. Dieses Vertrauen entscheidet letztendlich darüber, wie wir Kindern begegnen, wenn sie etwas nicht tun wollen, was wir uns wünschen. Vertrauen wir nicht, fangen wir hier an zu kämpfen und sagen: „Das musst du aber tun.“

Wie verändert sich denn dann die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, wenn ich mich traue zu vertrauen und keinen Gehorsam erwarte?

Sie erreicht eine neue Dimension. Sie wird erfüllender. Es entsteht mehr Kontakt. Zum einen, weil die Kinder keine Angst mehr haben vor den Erwachsenen, weil diese ihre Macht verantwortungsvoll nutzen. Das ist großartig! Und: Die Erwachsenen bleiben mehr bei sich. Und das erzeugt mehr Kontakt. Dadurch werden wir weniger traumatisierte Menschen haben. Wenn Kinder und Jugendliche bei sich bleiben können, haben sie Frieden im Inneren. Und das bedeutet langfristig Frieden im Äußeren. Gesellschaftlich betrachtet ist es deshalb auch so wichtig, dass Menschen bei sich bleiben dürfen. Ich genieße den Kontakt zu diesen emotional gesunden Kindern. Sie mögen sich selbst, haben keine Angst und zeigen sich, wie sie sind.

Wird das Machtgefälle zwischen Kind und Erwachsenem also immer kleiner?

Macht gibt es immer. Wir sind nun mal viel mächtiger! Im krassesten Fall könnten wir ein Kind sogar erwürgen. Wir haben die physische, die soziale, die psychische, die emotionale Macht. Wir können Kinder definieren und verkehrt machen. Die Generation davor wollte die physische Gewalt ausmerzen. Viele Eltern und Fachkräfte heute wollen den psychischen Macht-Missbrauch wegbekommen. Macht haben wir und es ist gut, diese sinnvoll zu nutzen. Wenn Kinder nämlich entscheiden, wie wir unser Geld ausgeben, kommen wir irgendwann vor lauter Spielzeug nicht mehr zur Tür rein. Oder wir bleiben über Nacht auf dem Spielplatz. Wir müssen sie sogar nutzen, wenn es für die Kinder gefährlich wird. Wenn ein Kind über die Straße rennt und ich sehe, ein Auto kommt, muss ich es packen, und gehe dabei über eine körperliche Grenze. Das mache ich, weil ich das Kind schützen will. Und nicht, weil ich denke, das Kind kann nichts allein. Oft wird das in der Erziehung heute verpönt, wenn Erwachsene ihre Macht nutzen. Ich denke, sie müssen sie aus den richtigen Gründen nutzen.

Wir können Kinder durch unsere Machtposition also verkehrt machen. Was meinen Sie genau damit?

Das fängt damit an, dass ich dem Kind sage: „Das, was du machst und sagst, ist nicht richtig.“ Ein Dreijähriger fährt zum Beispiel auf dem Hof mit dem Dreirad. Dann kommt ein anderer Dreijähriger dazu, nimmt den ersten am Arm, zerrt ihn vom Dreirad und will selbst fahren. Wenn dann die Erzieherin kommt und den Jungen am Arm packt und sagt: „So machen wir das hier nicht!,“, fängt das Verkehrtmachen an. Kinder können entwicklungsbedingt, bis sie etwa zehn sind, nicht unterscheiden: „Ist das Kritik an meiner Person oder an meiner Handlung?“ Ich behaupte sogar: Auch die meisten Erwachsenen können das nicht. Dann hört das Kind: „Ich bin falsch.“ Die Intention der Fachkraft war, es dabei zu begleiten, ein sozial verträglicherer Mensch zu werden. Weil der Junge aber drei ist, kann er sich nicht in andere einfühlen. Er braucht noch Zeit und Erfahrung. Die Fachkraft sollte sich als Resonanzpartnerin zur Verfügung stellen und sagen: „Das ist mir zu heftig. Du willst mit dem Dreirad fahren und er auch.“ Dann guckt sie, was bei den Kindern weiter passiert. Wie geht’s dem einen, wie dem anderen. Sie vermittelt also den Resonanzprozess in der Gruppe. Weil Kinder sozial kompetent geboren sind, reicht das aus. Denn wenn ich mit Moral und Belehrung komme, hören die Kinder eben, dass sie nicht richtig sind. Diese Art von Kritik verursacht Schmerzen, wissen wir heute, sie führt zu Adrenalinausstoß. Was die Fachkraft also mit dem Kind macht, ist genauso schmerzhaft wie das, was das eine Kind ­mit dem anderen macht. Fachkräfte sollten verstehen, was in dieser Situation passiert. Die Erzieherin hat reagiert, weil vielleicht eigene Gefühle der Verletzung und Ohnmacht angesprochen wurden. Sie war also nicht mehr die erwachsene, reflektierte Fachkraft, die sie normalerweise ist.

Die Veränderung im Verhältnis zu den Kindern, über die Sie sprachen – wo sieht man die noch im Kita-Alltag?

Das Offensichtlichste ist für mich hier der Verzicht auf Konsequenzen. Damit meine ich: Es gibt Lego-Verbot, weil das Kind nicht aufgeräumt hat. Das sehe ich heute viel seltener als früher. Wobei es immer noch Kitas gibt, in die ich reinkomme und sofort eine Liste sehe, wer heute Lego-Verbot hat, weil er irgendwas nicht gemacht hat. Das sind die Kitas, in denen die Fachkräfte nicht wissen, was sie sonst tun können. Ich wünsche mir den Weg von der Bestrafung zur Begleitung. Auch beim Aufräumen! Wie kann das Kind wahrnehmen, was die Gruppe braucht? Wie kann es mit seiner eigenen Unlust umgehen, wie kann es sich selbst steuern? Ich muss die Kinder im Gleichgewicht begleiten, damit sie entscheiden können: Wo höre ich auf das, was ich brauche, und wo gebe ich etwas für die Gruppe, weil die es braucht?

In einer Klasse hab‘ ich einmal den Kindern gesagt, sie sollen bitte den Tisch abwischen. Da sagte ein Junge zu mir: „Ich Mann – du Putzfrau.“ Wenn ich jetzt sage: “Nö, das gibt es hier nicht, Jungs müssen genau wie Mädchen putzen“, bedeutet das für ihn, dass seine Welt nicht richtig ist. Wie will er damit umgehen? Er kann dann gegen mich kämpfen oder gegen sich. Ich könnte ihn zwingen, aufzuräumen, aber hier wird er aussteigen. Ich muss die Kinder vielmehr dabei begleiten, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln – vielleicht auch fernab von den Vorstellungen, die Fachkräfte und Eltern haben.

Die Fachkraft selbst ist Teil des Wandels, aber selbst in der Gehorsamskultur aufgewachsen. Wie kann sie sich von alten Mustern verabschieden?

Der Weg muss erst noch gefunden werden. Das Alte funktioniert nicht mehr, das Neue ist aber noch nicht da. Das ist eine Expedition in unbekanntes Gebiet. Und zugleich eine große Chance für Fachkräfte. Sie können ihre individuelle, fachpersönliche Integrität entwickeln. Durch das neue Bild des Menschen in den Kitas haben auch sie ein anderes Selbstverständnis. Sie wissen, ich habe eine Kompetenz, es ist wichtig, dass ich gehört werde, ich kann Regeln mit der Leitung zusammen entwickeln. Auch die Fachkräfte müssen nicht mehr gehorsam sein und alle Regeln einfach annehmen.

Die Gehorsamskultur hat uns alle zutiefst verletzt. Wir mussten uns verlassen, um bei der Gemeinschaft mitmachen zu können: Das macht man nicht, das gehört sich nicht, was sollen die anderen denken. Das ist uns noch sehr präsent. Heute ist aber wichtig, was jeder Einzelne denkt. Es ist notwendig, dass es allen gut geht. Das ist nicht nur für die Kinder gut, sondern auch für die Fachkräfte. Wobei mir natürlich klar ist: In vielen Kitas ist das noch nicht angekommen. Viele wissen noch nicht, was die Alternative zur Gehorsamskultur ist. Aber: Es werden immer mehr, die hier umdenken.

Wie kann ich als Team dahinkommen, wenn ich merke: Bei uns ist das noch nicht so?

Ein guter Start ist bei einem selbst. Geht es mir gut hier in der Kita? Fühle ich mich wohl? Die meisten würden wohl sagen: „Es ist zu anstrengend, zu hektisch, ich habe zu viele Aufgaben.“ Ich bin oft erstaunt, wie sehr die Leute über ihre eigenen Grenzen gehen und ihre Werte verraten. Der Startpunkt für eine gute Versorgung für die Kinder in der Kita sind aber die Fachkräfte: Wenn es ihnen nicht gut geht, können sie auch die Kinder nicht gut versorgen. Hier geht es um Eigenverantwortung. Jesper Juul hat mal gesagt: „Entweder ich übernehme die Verantwortung für meine Grenzen, Bedürfnisse, Wünsche. Oder ich bin das Opfer und der andere ist schuld.“ Bei uns in den Kitas war diese Eigenverantwortung nie so richtig erlaubt, deshalb ist sie auch verkümmert und wir sagen oft: Der Fachkräftemangel, die Eltern, der Träger, die Gesellschaft sind schuld. Aber wir müssen uns selbst überlegen, was wir brauchen und was gut für uns ist. Durch den Fachkräftemangel entsteht hier auch eine Chance. Wir können sagen, was wir benötigen, und Träger und Co. können nicht einfach sagen: „Ist uns egal.“

Nicole Wilhelm ist Autorin, Gordon-Familientrainerin, Familylab-Seminarleiterin (nach Jesper Juul) und geht seit 20 Jahren gemeinsam mit Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Kindern und Jugendlichen der Frage nach: Wie schaffen wir Beziehungen, in denen wir uns wohlfühlen und jede und jeder den Entwicklungsraum bekommt, den sie bzw. er braucht?

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