Wir können Kinder durch unsere Machtposition also verkehrt machen. Was meinen Sie genau damit?
Das fängt damit an, dass ich dem Kind sage: „Das, was du machst und sagst, ist nicht richtig.“ Ein Dreijähriger fährt zum Beispiel auf dem Hof mit dem Dreirad. Dann kommt ein anderer Dreijähriger dazu, nimmt den ersten am Arm, zerrt ihn vom Dreirad und will selbst fahren. Wenn dann die Erzieherin kommt und den Jungen am Arm packt und sagt: „So machen wir das hier nicht!,“, fängt das Verkehrtmachen an. Kinder können entwicklungsbedingt, bis sie etwa zehn sind, nicht unterscheiden: „Ist das Kritik an meiner Person oder an meiner Handlung?“ Ich behaupte sogar: Auch die meisten Erwachsenen können das nicht. Dann hört das Kind: „Ich bin falsch.“ Die Intention der Fachkraft war, es dabei zu begleiten, ein sozial verträglicherer Mensch zu werden. Weil der Junge aber drei ist, kann er sich nicht in andere einfühlen. Er braucht noch Zeit und Erfahrung. Die Fachkraft sollte sich als Resonanzpartnerin zur Verfügung stellen und sagen: „Das ist mir zu heftig. Du willst mit dem Dreirad fahren und er auch.“ Dann guckt sie, was bei den Kindern weiter passiert. Wie geht’s dem einen, wie dem anderen. Sie vermittelt also den Resonanzprozess in der Gruppe. Weil Kinder sozial kompetent geboren sind, reicht das aus. Denn wenn ich mit Moral und Belehrung komme, hören die Kinder eben, dass sie nicht richtig sind. Diese Art von Kritik verursacht Schmerzen, wissen wir heute, sie führt zu Adrenalinausstoß. Was die Fachkraft also mit dem Kind macht, ist genauso schmerzhaft wie das, was das eine Kind mit dem anderen macht. Fachkräfte sollten verstehen, was in dieser Situation passiert. Die Erzieherin hat reagiert, weil vielleicht eigene Gefühle der Verletzung und Ohnmacht angesprochen wurden. Sie war also nicht mehr die erwachsene, reflektierte Fachkraft, die sie normalerweise ist.
Die Veränderung im Verhältnis zu den Kindern, über die Sie sprachen – wo sieht man die noch im Kita-Alltag?
Das Offensichtlichste ist für mich hier der Verzicht auf Konsequenzen. Damit meine ich: Es gibt Lego-Verbot, weil das Kind nicht aufgeräumt hat. Das sehe ich heute viel seltener als früher. Wobei es immer noch Kitas gibt, in die ich reinkomme und sofort eine Liste sehe, wer heute Lego-Verbot hat, weil er irgendwas nicht gemacht hat. Das sind die Kitas, in denen die Fachkräfte nicht wissen, was sie sonst tun können. Ich wünsche mir den Weg von der Bestrafung zur Begleitung. Auch beim Aufräumen! Wie kann das Kind wahrnehmen, was die Gruppe braucht? Wie kann es mit seiner eigenen Unlust umgehen, wie kann es sich selbst steuern? Ich muss die Kinder im Gleichgewicht begleiten, damit sie entscheiden können: Wo höre ich auf das, was ich brauche, und wo gebe ich etwas für die Gruppe, weil die es braucht?
In einer Klasse hab‘ ich einmal den Kindern gesagt, sie sollen bitte den Tisch abwischen. Da sagte ein Junge zu mir: „Ich Mann – du Putzfrau.“ Wenn ich jetzt sage: “Nö, das gibt es hier nicht, Jungs müssen genau wie Mädchen putzen“, bedeutet das für ihn, dass seine Welt nicht richtig ist. Wie will er damit umgehen? Er kann dann gegen mich kämpfen oder gegen sich. Ich könnte ihn zwingen, aufzuräumen, aber hier wird er aussteigen. Ich muss die Kinder vielmehr dabei begleiten, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln – vielleicht auch fernab von den Vorstellungen, die Fachkräfte und Eltern haben.
Die Fachkraft selbst ist Teil des Wandels, aber selbst in der Gehorsamskultur aufgewachsen. Wie kann sie sich von alten Mustern verabschieden?
Der Weg muss erst noch gefunden werden. Das Alte funktioniert nicht mehr, das Neue ist aber noch nicht da. Das ist eine Expedition in unbekanntes Gebiet. Und zugleich eine große Chance für Fachkräfte. Sie können ihre individuelle, fachpersönliche Integrität entwickeln. Durch das neue Bild des Menschen in den Kitas haben auch sie ein anderes Selbstverständnis. Sie wissen, ich habe eine Kompetenz, es ist wichtig, dass ich gehört werde, ich kann Regeln mit der Leitung zusammen entwickeln. Auch die Fachkräfte müssen nicht mehr gehorsam sein und alle Regeln einfach annehmen.
Die Gehorsamskultur hat uns alle zutiefst verletzt. Wir mussten uns verlassen, um bei der Gemeinschaft mitmachen zu können: Das macht man nicht, das gehört sich nicht, was sollen die anderen denken. Das ist uns noch sehr präsent. Heute ist aber wichtig, was jeder Einzelne denkt. Es ist notwendig, dass es allen gut geht. Das ist nicht nur für die Kinder gut, sondern auch für die Fachkräfte. Wobei mir natürlich klar ist: In vielen Kitas ist das noch nicht angekommen. Viele wissen noch nicht, was die Alternative zur Gehorsamskultur ist. Aber: Es werden immer mehr, die hier umdenken.
Wie kann ich als Team dahinkommen, wenn ich merke: Bei uns ist das noch nicht so?
Ein guter Start ist bei einem selbst. Geht es mir gut hier in der Kita? Fühle ich mich wohl? Die meisten würden wohl sagen: „Es ist zu anstrengend, zu hektisch, ich habe zu viele Aufgaben.“ Ich bin oft erstaunt, wie sehr die Leute über ihre eigenen Grenzen gehen und ihre Werte verraten. Der Startpunkt für eine gute Versorgung für die Kinder in der Kita sind aber die Fachkräfte: Wenn es ihnen nicht gut geht, können sie auch die Kinder nicht gut versorgen. Hier geht es um Eigenverantwortung. Jesper Juul hat mal gesagt: „Entweder ich übernehme die Verantwortung für meine Grenzen, Bedürfnisse, Wünsche. Oder ich bin das Opfer und der andere ist schuld.“ Bei uns in den Kitas war diese Eigenverantwortung nie so richtig erlaubt, deshalb ist sie auch verkümmert und wir sagen oft: Der Fachkräftemangel, die Eltern, der Träger, die Gesellschaft sind schuld. Aber wir müssen uns selbst überlegen, was wir brauchen und was gut für uns ist. Durch den Fachkräftemangel entsteht hier auch eine Chance. Wir können sagen, was wir benötigen, und Träger und Co. können nicht einfach sagen: „Ist uns egal.“
Nicole Wilhelm ist Autorin, Gordon-Familientrainerin, Familylab-Seminarleiterin (nach Jesper Juul) und geht seit 20 Jahren gemeinsam mit Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Kindern und Jugendlichen der Frage nach: Wie schaffen wir Beziehungen, in denen wir uns wohlfühlen und jede und jeder den Entwicklungsraum bekommt, den sie bzw. er braucht?
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