30.07.2019
Martina Hartkemeyer
GettyImages/ Dougal Waters

Wir können die Welt verändern, indem wir unsere Wahrnehmung ändern – Die Kraft des Dialogs

Ich muss gar nicht gewinnen! Diese Erkenntnis kann uns weiterhelfen, wenn wir in ein echtes Zwiegespräch mit anderen treten wollen. Was außerdem dazugehört, damit echte Begegnung im Kita-Team gelingt, weiß unsere Autorin, die seit vielen Jahren das Institut für Dialogprozess-Begleitung leitet.

Text: Martina Hartkemeyer, Bild: GettyImages/ Dougal Waters

Haben Sie sich schon einmal in einer Sackgasse befunden, in einer Situation, in der Sie überrascht feststellten, dass Sie mit Ihrer alten, langjährig bewährten Strategie nicht mehr weiterkamen? Wo Sie irritiert waren, die Welt nicht mehr verstanden – oder zumindest Ihrem Gegenüber gedanklich gar nicht mehr folgen konnten? Das Gute an solchen verfahrenen Situationen: Sie können uns öffnen für Neues, wenn die alten Konzepte nicht mehr zu dem gewünschten Erfolg führen.

Zielorientiert, schnell, aufs Gewinnen ausgerichtet – so argumentieren wir in Diskussionen, wenn es eben darum geht, das Gegenüber zu überzeugen oder durch die besseren Argumente vor einem Publikum zu gewinnen und qualifizierter zu erscheinen. In einer Situation, in der es aber gar nicht ums Gewinnen oder Verlieren geht, sondern in der ein besseres gegenseitiges Verstehen notwendig ist, sind grundlegend andere, dialogische Qualitäten gefragt: dem Gegenüber zuhören, um ein wirkliches, tieferes Verständnis zu ermöglichen, und auch in sich selbst hineinhorchen, sich über seine eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Denkschablonen klar werden. Also seinen Blick zu weiten, anstatt ihn zielorientiert zu verengen. Solch ein Dialog bedeutet auch den Verzicht auf Machtgefälle und lebt davon, dass sich die Beteiligten auf gleicher Augenhöhe begegnen.

Begegnungskultur

Begegnungskultur braucht keine Offenbarungen, Beziehungen brauchen aber Raum zum Zuhören. Die Rahmenbedingungen lassen sich gemeinsam oder mit Dialog-Begleiterinnen vereinbaren. Sinnvoll sind hier ein Stuhlkreis ohne Tische und ein vorher festgesetzter Zeitrahmen von eineinhalb bis zwei Stunden. Bewährt hat sich außerdem, zu Beginn und zum Ende eine kurze Runde zu einer vereinbarten Frage zu gestalten, bei der jeder etwas sagen kann, das aber nicht muss – das gilt übrigens für die gesamte Besprechung.

Wichtig ist auch, dass alle zuhören und einander ausreden lassen. Hier kann die Verwendung eines Redesymbols helfen. Durch die Verlangsamung des Holens und Zurückbringens entsteht mehr Zeit zum Zuhören. Zusätzlich kann zu Beginn ein Gong angeschlagen werden oder mit einigen Minuten Stille begonnen werden, um aus dem Alltagsstress zu gelangen und umzuschalten auf Zuhörbereitschaft und Kennenlernen anderer Standpunkte.

Wenn möglich, sollte manchmal ein Nachmittag, ein ganzer Tag oder ein Wochenende eingeplant werden, an dem Zeit für Übungen ist, um bestimmte Fähigkeiten zu vertiefen, die den Dialog unterstützen, wie Perspektivenwechsel, Zuhörübungen, Suspendieren von Bewertungen, nonverbale Übungen.

Warum überhaupt Dialog?

Wir begeben uns in die Falle der Selbstverdummung, wenn wir unser begrenztes Vermögen so interpretieren, als wüssten wir wirklich, „was ist“: die typische Haltung des Wissenden. Diese Attitüde ist eine nicht selten anzutreffende Berufskrankheit in lehrenden, erziehenden oder pädagogischen und leitenden Funktionen. Sie liegt nahe, denn ein lehrender oder leitender Mensch hat diese Position doch aufgrund seiner Qualifikation, seines Wissensvorsprungs, seiner Erkenntnisfähigkeit bekommen – oder? Zumindest eine gängige Zuschreibung.

Noch problematischer für das menschliche Zusammenleben wird es, wenn sich Menschen mit bruchstückhaftem Erkenntnisvermögen und begrenzten Anschauungen in ihren Urteilen und Vorurteilen gegenseitig bestätigen. So entsteht folgende Dynamik: Wir gegen die anderen. Dies gründet darauf, dass wir uns mit unseren Anschauungen identifizieren, sodass wir uns, wenn unsere Meinungen bedroht sind, persönlich bedroht fühlen. Im Dialog vertiefen wir verschiedene Kernfähigkeiten, deren zentrale Haltung die lernende ist, eine innere Haltung von Interesse am anderen, getragen von dem Bewusstsein des eigenen Nichtwissens.

Manche Gruppen beschäftigen sich während eines Dialogs jeweils mit bestimmten Kernfähigkeiten, die als Poster oder Postkarte in die Mitte gelegt werden. Und diese Zeit des Dialogs dient nicht einer Entscheidungsfindung, sondern dem Verständnis eines Problems oder einer Fragestellung.

Wie wir die Welt betrachten

Meine Wahrnehmungs- und Interpretationskonzepte der Welt stelle ich gemeinhin nicht infrage, solange sie sich bewähren oder solange ich mich mit ihnen wohlfühle. Manchmal führen allerdings auch Änderungen äußerer Umstände zu Veränderungen meiner Wahrnehmung. Wann sind Sie das letzte Mal im Wald spazieren gegangen? Haben das Rauschen des Windes in den Bäumen gehört, das Leuchten der Blätter im Sonnenlicht genossen, die Strahlen der Sonne, die zwischen dicken Baumstämmen hervorschien, kurz, den Wald als Wanderer erlebt? Waren Sie auch schon einmal im Wald, um dort Holz für Ihre Heizung zu hacken? Um tote Bäume zu fällen, vom Sturm abgebrochene Stämme zu zersägen, zerborstene Kronen zu zerteilen, sich mit Brennholz zu versorgen?

Verschiedene Blickwinkel

Je nachdem, ob Sie als Erholung suchender Wanderer oder als jemand, der sich für den kalten Winter mit Brennholz versorgen will, unterwegs sind, wird sich Ihr Blick auf den Wald ändern. Wie wir selbst die Welt betrachten, scheint uns der einzig mögliche Blickwinkel. Andere Perspektiven können aber eine ebensolche Berechtigung haben wie die unsere.

Die größte Herausforderung für viele ist die Identifikation mit den eigenen mentalen Modellen, Urteilen und Bewertungen, die den Blick eher verengen und der Begegnung mit dem Gegenüber nicht förderlich sind. Je mehr meine Einsicht in die Begrenztheit meiner Wahrnehmung wächst, umso offener kann ich für andere Sichtweisen werden. Oft geht es weniger um die Frage von richtig und falsch, sondern um unterschiedliche mentale Modelle, die wir sinnvoll finden.

Wahrnehmung ändern: Wahrnehmungsfilter

Wie können wir uns bewusst machen, dass unsere Wahrnehmungsfilter und innere Modelle, die wir aus ganz verschiedenen Gründen entwickelt haben, uns begrenzen? Glücklicherweise besitzen wir nicht nur die Fähigkeit, die Welt sensorisch, gefühls- und verstandesmäßig zu erfassen, sondern auch die Fähigkeit, diese Wahrnehmung zu verändern. Oder: Wir können die Welt verändern, indem wir unsere Wahrnehmung verändern.

Dialoge sind wichtig

Das bemerken wir auch bei der Wahrnehmung von Menschen. Wenn wir mehr über ihre persönlichen Hintergründe und Lebensumstände wissen, sind wir oftmals eher bereit, Verständnis für ihr Verhalten zu entwickeln. Das allerdings gelingt nur in einem angstfreien Raum, für dessen Entwicklung jede Gruppe Zeit braucht. Praktiziert eine Gruppe oder ein Team häufiger Dialog, so gelingt es eher, sich für andere Meinungen zu interessieren und sie zu erkunden. Die gemeinsame Dialogzeit wird vielfach als geschützter Raum wahrgenommen, der auch auf den Alltagsumgang abfärbt. In einem solchen Vertrauensraum kann ein kreativer Dialog praktiziert werden. In einem solchen Beziehungsfeld entsteht Resonanz zwischen den Beteiligten, gewissermaßen ein Sich-Einstimmen und Sich-Einschwingen aufeinander, wobei nicht ein gemeinsamer, einstimmiger Ton angestrebt wird, sondern eine vielfältige, harmonisch klingende Melodie.

Dialog eines Physikers

Das Abrufen von abgespeichertem Wissen, das Leben nach Mustern aus der Vergangenheit, nennt David Bohm (1917 bis 1992), angloamerikanischer Quantenphysiker, Leben aus bereits Gedachtem. Bohm unterscheidet zwischen Gesprächen, in denen lediglich Gedachtes ausgetauscht wird – was in Diskussionen ja meist der Fall ist –, und Dialogen, in denen tatsächlich neues Denken entstehen kann.

Dialog kann so ein Weg sein, von Gedachtem zum kreativen Denken zu kommen. David Bohm fordert dazu auf, im Dialog Prozesse und Strukturen, die unseren Gedanken und Handlungen zugrunde liegen, beständig zu hinterfragen. Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph und Vater des Dialogs (1878 bis 1965) befasste sich in seiner Arbeit intensiv mit Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen, den Möglichkeiten des Gesprächs, der Begegnung zwischen dem Ich und dem Du. Er stellt den Vergegnungen oberflächlicher Unterhaltungen die Begegnungen eines echten Dialogs gegenüber, in dem sich Menschen vom „Scheinenwollen“ frei machen. Eine Herausforderung – vielleicht sogar ein Paradox in einer Welt, wo Werbemillionen in das Outfit und die „Erscheinung“ gepumpt werden.

Wahrnehmung ändern: Meinung in der Schwebe

Grundsätzlich basiert dialogische Kommunikation darauf, wie wir uns ausdrücken, wie wir miteinander sprechen und anderen zuhören. Darüber hinaus ist es hilfreich, unsere eigenen Meinungen in der Schwebe halten zu können, sie sozusagen zu suspendieren und damit anderen Personen grundsätzlich Respekt entgegenzubringen. Das heißt, die Basis dialogischer Fähigkeiten liegt auf diesem Viereck von respektieren und suspendieren, sprechen und zuhören.

In welchen Situationen gelingt es Ihnen, gut zuzuhören und mit Interesse einen gänzlich fremden Standpunkt zu erfragen? Das ist im Alltag nicht immer leicht. Viele Gruppen oder Teams vereinbaren daher feste Zeiten für Dialogrunden – ein Mal monatlich, ein Mal wöchentlich, je nach Zeit und Möglichkeit. Je öfter ich erlebe, dass Vielfalt eine Bereicherung sein kann, desto weniger genervt muss ich reagieren. Und zugleich werden Punkte klarer, die für mich nicht verhandelbar sind.

Dialog als gelungene Beziehung

Lebendigkeit in der Kommunikation könnte dann heißen: Kann ich eine Wahl treffen, mich entscheiden dafür, wie ich anderen begegnen möchte? Oder bin ich einem einmal entwickelten Muster so verhaftet, dass nicht ich die Begegnung gestalte, sondern die Situation mich bestimmt? Das kann dann dazu führen, ein mir vertrautes Muster abzurufen, das ich abhängig von dem jeweiligen Thema variiere, wodurch es vielleicht zu interessanten Beiträgen, aber weniger zu einer menschlichen Begegnung in der jeweiligen Situation kommen kann.

Manchmal hilft es, wenn ich mich frage: Kenne ich solche Situationen, wie die mit dieser anstrengenden Mutter, bei der ich schon des Öfteren innerlich die Augen verdreht habe? Wem gegenüber habe ich schon einmal so genervt reagiert? Was wird da in mir ausgelöst? Auch ein Blick auf meine eigene Art zu reden, meine Argumente, meine Geschwindigkeit, meine Stimmlage, kann mir einen größeren Raum erschließen. Vielleicht experimentiere ich mal bewusst mit mehr oder weniger Intensität, mehr oder weniger Lautstärke – und ernte damit eine neue Qualität des Zuhörens.

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