05.11.2020

„Sophia hat nur noch Augen für das neue Mädchen"

Madeleine braucht in der Eingewöhnungszeit besonders viel Aufmerksamkeit. Ihre Erzieherin begegnet ihr mit viel Empathie und baut eine enge Beziehung zu dem Kind auf. Den anderen Eltern bleibt das nicht verborgen. Ist Madeleine das Lieblingskind?

Der Fall

Sophia arbeitet seit vier Jahren als pädagogische Fachkraft in Vollzeit in der Kita Sonnenschein in einer altersübergreifenden Gruppe. Ihre Empathie, ihre Verlässlichkeit, ihr Engagement und ihre Authentizität geben wiederholt Anlass für positive Resonanzen seitens der Eltern und Teamkolleginnen. Im
Sommer kommt die zweijährige Madeleine in die Kita. Das Mädchen hat noch keine Geschwister und ist mit ihrer Familie kürzlich aus einer anderen Stadt zugezogen. Von Anfang an haben die Fachkraft und Madeleine einen intensiven Kontakt, was die Eingewöhnung und den Beziehungsaufbau erleichtert.
Die Eltern erfreut diese Tatsache. Das Kind ist aufgeschlossen, fröhlich und unbeschwert. Sophia fühlt sich an ihre jüngere Schwester erinnert. Zunehmend erwartet Sophia das tägliche Kommen des Mädchens mit Freude. Madeleines Eltern zeigen sich Sophia gegenüber zuvorkommend und bedanken sich jeden Tag bei ihr für die gute Betreuung. Die intensive Beziehung zwischen Fachkraft und Familie bleibt den anderen Eltern nicht verborgen. Frau Frühauf, die Leiterin der Kita, gibt Sophia in einer persönlichen Rücksprache den Hinweis, dass sie beobachtet habe, wie zugewandt
sich Sophia gegenüber Madeleine zeige und dass dieser Sachverhalt positive Auswirkungen auf die Eingewöhnung des Mädchens habe. Allerdings gebe es bereits Bemerkungen anderer Eltern dazu.

Wer spielt mit?

Madeleine, zwei Jahre, braucht Sicherheit, Vertrautheit und Aufmerksamkeit, um sich nach dem Umzug in der Kita sicher gebunden zu fühlen. Diese Bedürfnisse werden durch die Fachkraft und ein verlässliches, unterstützendes Umfeld beim Ankommen in der Kita befriedigt.
Sophia, die pädagogische Fachkraft, reagiert professionell und situationsangemessen. Sie vermittelt der zweijährigen Madeleine und ihren Eltern durch ihre positive Zuwendung und ihre Freude bei der Ankunft des Mädchens ein Gefühl von Sicherheit.
Madeleines Eltern, die nach dem Umzug und dem Eintritt ihrer Tochter in die Kita gerade eine Reihe von Veränderungen durchlaufen, sehen ihr Kind gut betreut. Sie können beruhigt ihren beruflichen Verpflichtungen nachkommen. Nähe, Schutz und Fürsorge sind gegeben.
Die anderen Eltern, die die besonders intensive Beziehung zwischen der Fachkraft und Madeleine und ihren Eltern wahrnehmen, sind verunsichert.
Sie stellen sich die Frage, wie ihr Kind gesehen wird. Sie sehen in der Situation möglicherweise eine Ungleichbehandlung.
Die Leitung, die ihre Beobachtungen transparent macht, nimmt die verschiedenen Bedürfnisse und Sichtweisen aller Beteiligten wahr.

Zum Reflektieren

Das Dilemma besteht darin, dass Sophia professionell und situationsangemessen eine intensive Beziehung zu Madeleine aufbaut, die anderen Eltern aber Sorge haben, ihr Kind könne angesichts der Intensität dieser Beziehung übersehen werden. Fachlich ist sowohl das Verhalten von Sophia als auch das Verhalten der Eltern nachvollziehbar. Die Situation ist dennoch komplex. Einerseits ist Empathie elementar für die Bewältigung der täglichen Anforderungen, andererseits macht sie, aufgrund subjektiver Wahrnehmungen Dritter, angreifbar. Es geht in dieser Situation um Vertrauen, Gerechtigkeit
und Gleichbehandlung. Die Sichtweisen der Beteiligten sind sehr unterschiedlich, weil Ausgangslagen und Ziele unterschiedlich sind. Hilfreich für eine Klärung der Situation ist es, diese wahrzunehmen und zu einer eigenen Bewertung der Situation zu kommen.


Es ist wichtig, Gefühle zu akzeptieren. Entscheidend ist, diese Gefühle nicht zu rechtfertigen oder zu verbergen, stattdessen den Eltern klar zu zeigen: „Hier braucht ein Kind meine besondere Aufmerksamkeit. Das ist meine Aufgabe. Ich sehe auch Ihr Kind.“ Gefühle können nicht wegdiskutiert werden, sie sind stattdessen als ein wertvoller Kompass zu nutzen. Über die Nähe zu einem einzelnen Kind und seinen Eltern können nun die Bedürfnisse aller Kinder und die Sehnsüchte aller Eltern in den Blick genommen werden. Dann ist eine solche Situation ein Anlass, um über bestehende Regeln und Abläufe nachzudenken. Stellen wir in unserer Kita sicher, dass alle Kinder wertschätzend und aufmerksam empfangen und verabschiedet werden? Wie nehmen wir
in solchen Situationen die Eltern wahr? Wie erfahren Eltern, dass wir ihrem Kind die notwendige Aufmerksamkeit zukommen lassen?
Professionell handeln heißt auch, für Klarheit zu sorgen: Ja, ein Kind braucht zurzeit eine besonders intensive Betreuung. Aber diese Betreuung bekommt jedes Kind, wenn es sie braucht. Darüber hinaus kann eine solche Situation auch ein Anlass sein, eigene Kommunikationsmuster zu überdenken. Wie sprechen wir von einzelnen Kindern gegenüber Dritten? Wenn hier unangebrachte Kosenamen oder Wörter wie Lieblingskind benutzt werden, dann ist das Anlass zur Korrektur. Eine professionelle Handlung kann nicht ausschließlich durch Emotionen gesteuert werden.

Zur Lösungssuche

Die Leiterin nimmt die Spannungen in der Einrichtung wahr. Sie weiß, dass sie Unstimmigkeiten nicht ignorieren kann. Eine Klärung muss ins Auge gefasst werden, vielleicht steckt eine Überprüfung bestehender Abläufe dahinter. Dass Madeleine besondere Aufmerksamkeit braucht, ist ihr auf der fachlichen Ebene bewusst. Wichtig ist, dass Sophia jetzt nicht verunsichert handelt.
Nach einem kurzen Gespräch zwischen der Leiterin Frau Frühauf und der Fachkraft Sophia entsteht die Idee, dass das Team eingebunden werden sollte. Im Team wächst während der Teambesprechung durch die emotionale Erzählung von Sophia über die Herausforderungen von Madeleines Eingewöhnung die Empathie mit Kindern und Eltern. Jedes Teammitglied spürt: „Alle
Eltern sehnen sich nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung für ihr Kind.“ In der Teamsitzung überlegen alle gemeinsam wie für Eltern und Kinder spürbar werden kann, dass jedes Kind individuell gesehen wird. Dabei entstehen Ideen, die einen professionellen Umgang mit der Thematik widerspiegeln. Unter
anderem entscheidet das Team, die Rückmeldungen an die Eltern zu verstärken, im Sinne von: „Ich habe heute Ihr Kind beobachtet, es kann schon ...“ oder „Heute hat Ihr Kind zum ersten Mal ...“.
Darüber hinaus werden für alle Bezugskinder der Fachkräfte Sternstunden eingeführt, eine besondere Zeit mit individuellen Wünschen. Der Elternbeirat wird davon in der nächsten Sitzung durch Frau Frühauf unterrichtet. Phantasien über Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen können so gar nicht
erst aufkeimen.
In der nächsten Teamsitzung thematisiert Frau Frühauf die hohe Sensibilität, die im Ausdruck Lieblingskind steckt. Sie weist darauf hin, dass Sprache als Ausdruck einer Haltung zu sehen ist. Daher schlägt sie vor, eine Woche lang auf die Art und Weise zu achten, wie über einzelne Kinder gesprochen wird. Sie macht das Team neugierig auf dieErkenntnisse. Auch die Praktikantinnen werden einbezogen. Gerade der Blick von außen könnte wertvoll sein.
Sophia fühlt sich zunehmend befreit und wieder handlungssicher. Sie weiß, dass ihre Rolle in der Kita eine professionelle und nicht die der großen Schwester ist. Sie erwartet erfreut die ersten Signale von Madeleine in Bezug auf die Kontaktaufnahme zu den anderen Kindern und damit zur Ablösung, die sie aktiv unterstützen wird. Zur Verarbeitung der Gedanken und Gefühle wird sie dieser besonderen Phase in einer Lerngeschichte große Aufmerksamkeit schenken.

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