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Als Phil zwei Jahre alt war und die anderen Kinder sich – bereit für den Spaziergang – an der Haustür anstellten, rannte er nach vorne. Er wollte die Tür öffnen und für die anderen Kinder aufhalten. Als Phil vier Jahre alt war, betrachtete er den Bauklotzturm von Arun und sagte: „Dein Turm ist kacka. Meiner ist höher.“ Als Phil sechs Jahre alt war, suchte er ständig den Wettbewerb mit Gleichaltrigen: Wer kann am schnellsten um die Wiese laufen? Wer traut sich, von der höchsten Treppenstufe in den Sand zu springen? Wer fährt die wildesten Kurven mit dem Laufrad?
Meistens gewann Phil. Er galt als cooler Typ, mit dem man gut spielen konnte. Linus hielt sich immer in seiner Nähe auf und tat, was Phil sagte. Einmal spielten sie zusammen Fußball. Phil zählte lautstark die Tore, von denen er mehr schoss als Linus. Da kam Linus zu mir und sagte: „Es macht keinen Spaß, wenn Phil immer gewinnt und ich verliere.“ Ich ermutigte Linus, mit Phil darüber zu reden. Offenbar fanden die beiden eine Lösung für diesen Konflikt, denn kurz darauf verschwanden sie im Gebüsch, um sich ein Versteck zu bauen. Dass Phil dabei wieder der Wortführer war, schien Linus nicht zu stören. Er hatte immer noch das Privileg, mit Phil zu spielen. Und Phil hatte die Kompetenzen, die Spielsituation auszubalancieren.
Im Verständnis vieler psychoanalytischer Ansätze setzen sich Kinder im Spiel mit zentralen Entwicklungsthemen wie Macht und Freundschaft auseinander. Sie versuchen, wie Phil, ihren Rang in der Gruppe zu sichern, ein begehrtes Spielzeug zu erlangen oder ein Privileg zu verteidigen. Im Wettbewerb finden sie heraus, was sie gut können, aber auch, wo ihre Schwächen liegen.
Fünf- und Sechsjährige setzen sich mit Gleichaltrigen über Dinge auseinander, die ihnen wichtig sind. Sie suchen die Anerkennung über Sachen, die sie hergestellt oder geleistet haben, wie etwa ein hoher Bauklotzturm. Jüngere Kinder vergleichen sich eher über materielle Dinge, etwa wer das bessere Spielzeugauto hat. Dabei ist die Bedeutung oder der Wert, den sie dem Objekt zuweisen, subjektiv. An der Reaktion der anderen merken sie, ob die Sache für die anderen auch interessant ist. Denn nur dann eignet sie sich, um Beachtung und Spielpartner zu finden. Jüngere Kinder können sich weder untereinander noch Dinge realistisch miteinander vergleichen. Sie müssen erst lernen, Bewertungsmaßstäbe zu verstehen und unterschiedliche Kategorien in Beziehung zueinander zu setzen. Deshalb ist es vor allem bei jüngeren Kindern wichtig, dass die Bezugspersonen den Kindern mit Worten und Gesten Orientierungshilfen geben, ohne jemanden abzuwerten oder zu beschämen. Man sollte differenzbewusste Erziehung so verstehen, dass man Gemeinsamkeiten und Unterschiede beachtet, aber nicht bewertet.
Fachkräfte sollten den Kindern möglichst vielfältige Vergleichserfahrungen ermöglichen und diese mit den Kindern besprechen. Phil hat mit seinem Verhalten nicht nur Freunde und Bewunderer gefunden. Andere Kinder haben sich über sein Vordrängeln beschwert, denn auch mit sechs Jahren war es ihm noch sehr wichtig, in der Schlange vorne zu stehen. Er konnte mir nicht erklären, warum. Eines Tages sagte Moritz, der meist an zweiter Stelle stand: „Ich möchte auch mal Anführer sein.“ In dem anschließenden Gespräch meinten die Jungen, dass der Erste immer der Bestimmer sei. „Aber alle Kinder gehen doch in den Garten, da ist doch niemand der Bestimmer“, wandte ich ein und ergänzte: „Erster sein bedeutet für mich, dass man aufpassen muss, dass alle Kinder in der Schlange gut mithalten können.“ In den folgenden Tagen wechselten sich Phil und Moritz ab. Sie probierten aus, wie es ist, ein guter Anführer zu sein, und suchten meine Bestätigung.
Im Spannungsfeld zwischen Kooperation und Konkurrenz entwickelt sich das Spiel unter Peers. Kinder, die kompetent mit Konkurrenz umgehen, trauen sich selbst und anderen etwas zu. Sie wollen sich mit anderen vergleichen, können sich mit dem Erfolg des anderen freuen und eine Niederlage verkraften. Sie werten andere nicht ab, um sich selbst besser zu fühlen. Sie spornen sich und andere an und handeln fair. Ob Kinder das können, hängt von biologischen, soziokulturellen, familiären und individuellen Faktoren ab. Es gehört auf alle Fälle Übung dazu. Dabei ist es für Eltern und Fachkräfte nicht leicht, auch agonistische Spielanteile zuzulassen, wie sie für Konkurrenzsituationen typisch sind. Sie sind eine tägliche Herausforderung in der pädagogischen Arbeit, wie das folgende Beispiel von Sara und Maria zeigt:
Diejenige von beiden, die morgens die Erste im Gruppenraum war, schnappte sich alle Glasperlen und zog damit eine Kette auf. Der anderen rief sie später triumphierend zu: „Heute habe ich die Eiskristalle!“ Darauf entbrannte regelmäßig ein Streit. Wir boten erfolglos andere Perlen als Alternative an. Als das nicht half, entfernten wir die Glasperlen aus dem Gruppenraum.
Nun verglichen Sara und Maria aufmerksam ihre Kleidung: „Ich hab‘ ein neues Kleid. Ich bin Elsa!“ Die andere konterte: „Und ich hab‘ eine Krone!“ Mit solchen Wortgefechten verbrachten die Mädchen den ganzen Vormittag. Beide versuchten, attraktive Spielpartner für sich zu gewinnen und die andere auszugrenzen. Als wir die Gruppen umstrukturierten, entschieden wir uns, Sara und Maria zu trennen, um ihnen andere Erfahrungen und ein entspanntes Spielen zu ermöglichen.
Rivalität und Dominanzverhalten können sich auch auf andere Weise zeigen. So beobachten wir im Baubereich neben dem Konstruieren gespielte Kampfszenen und Fahrzeugkarambolagen. Kinder tragen Rangeleien um Spielsachen und Spielgeräte lautstark und körperlich aus. Spätestens dann greifen die Fachkräfte ein und versuchen, je nach Situation und Entwicklungsstand der Kinder – mal direktiv, mal im Dialog –, eine faire Lösung zu finden. Auch wenn Spielsachen im Streit kaputt gemacht werden und Kinder sich in der Situation verletzen können, müssen Fachkräfte schnell reagieren. Gute Konfliktbegleitung fördert die sozial-emotionalen und kommunikativen Fähigkeiten der einzelnen Kinder sowie eine entspannte Gruppenatmosphäre. Es gibt allerdings auch viele Fachkräfte, die Konflikte und Enttäuschungen vermeiden wollen und stattdessen pauschal loben: „Ihr wart alle toll!“ – „Alle sind Sieger.“ Aber indem sie Rivalität scheinbar unterbinden, nehmen sie den Kindern die Chance, sich mit Misserfolgen auseinanderzusetzen und zu einer eigenen Lösung zu kommen. Beides Aspekte, die für die Resilienz wichtig sind.
Auch Eltern wollen ihr Kind generell vor Misserfolgserlebnissen schützen und dessen unbeschwerte Kindheit bewahren. Erleben sie es in einer Gruppe, vergleichen sie es automatisch mit den anderen Kindern. Während die einen Eltern besonders stolz auf ihr Kind sind und den Wettbewerb als Ansporn sehen, lehnen andere dies ab.
Wenn ich den Eltern von unserer täglichen Arbeit berichte, finde ich immer konkrete Situationen für Erfolgserlebnisse ihres Kindes. Das ist möglich, weil wir andere Maßstäbe als die Schule haben und besonders auf die individuellen Stärken achten. Ich zeige den Eltern, wie sie ihr Kind in frustrierenden Momenten verbal begleiten und unterstützen können, sodass es Gefühle wie Enttäuschung, Wut oder Scham selbst regulieren kann. Dafür kann sich auch die Abholsituation eignen: Als ich einmal Sofi zu ihrer Mutter brachte, weinte sie, denn sie hatte just in diesem Moment ihren Tonstern zerbrochen. „Sofi, du weinst, weil dein Stern kaputt gegangen ist?“, fragte ich. Sofi schluchzte. Ich erzählte der Mutter, wie viel Mühe sich Sofi mit dem Stern gegeben hatte und wie stolz sie auf ihn war. Sofi beruhigte sich. „Was können wir denn jetzt machen?“, fragte ich sie. Sofi überlegte. „Mama soll ihn kleben.“
Wenn Regeln und Bewertungskriterien transparent sind, lernen Kinder, sich realistisch einzuschätzen. Die Fachkraft muss klarmachen, dass sich die Bewertung lediglich auf eine spezielle Situation oder Sache bezieht. Langfristig muss jedes Kind die Chance haben, Erster zu sein. Undifferenzierte Urteile oder abwertende Vergleiche zwischen den Kindern wirken dagegen demotivierend. Inspiriert durch das Internet benutzen Kinder untereinander die Geste „Daumen runter“, um den anderen schnell mal abzuwerten. So klein die Geste, so groß ist ihre Wirkung. Kinder fühlen sich dadurch als Ganzes abgelehnt. Es ist wichtig, darüber mit der Kindergruppe ins Gespräch zu kommen und sozial verträgliche Vereinbarungen zu treffen – auch im Hinblick auf Cybermobbing.
Ergänzend dazu pflegen wir kooperative Gruppenspiele. Als Mitglied einer Mannschaft zu verlieren, ist weniger schmerzlich als allein. Einmal sagte in der Reflexionsrunde ein sechsjähriger Junge: „Als ich dran war, hätte ich euch gebraucht zum Festhalten. Aber ihr habt alle nicht mitgemacht, dann konnte ich es allein nicht schaffen. Deshalb haben wir verloren.“ Um diese Zusammenhänge zu erkennen, braucht ein Kind kognitive und kommunikative Fähigkeiten, die man von Drei- und Vierjährigen nicht erwarten kann. Da aber bereits junge Kinder einem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, ist es umso wichtiger, dass Fachkräfte die Kinder darin unterstützen, eigene Stärken und Schwächen anzuerkennen, Freude an der eigenen Leistung zu entwickeln und eigene Interessen mit fairen Mitteln zu vertreten.
Wie so oft gilt auch bei der Konkurrenz: Nicht alle Kinder verhalten sich gleich. Die Psychologin Eleanor Maccoby schreibt, dass Jungen aufgrund ihres Geschlechts gern miteinander konkurrieren, während Mädchen eher kooperative Spiele bevorzugen. Der Evolutionsbiologe Sebastian Baldauf, der mit seinen Kollegen unterschiedliche evolutionäre Modelle des Konkurrenzverhaltens bei Tieren untersuchte, kommt zu ähnlichen Ergebnissen.
Dennoch gilt, solche Pauschalisierungen in der Pädagogik zu vermeiden. Es lassen sich große individuelle Unterschiede feststellen, wie Kinder mit Konkurrenz umgehen. Konkurrenz ist per se nicht schädlich. Sie gehört zum Leben und deshalb auch in die Kita. Ohne Konkurrenz finden wir keine Mitstreiter, die uns anspornen oder mit denen wir kooperieren können. Wie gut, wenn wir alle Kinder dabei verständnisvoll begleiten.
LITERATUR
HUIZINGA, JOHAN (2004): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt Verlag.
KREUZER, TILLMANN (2021): Wege der Ermutigung für entmutigte Kinder. In: Kerschgens, Anke; Heilmann, Joachim; Kupper-
Heilmann, Susanne (Hrsg.): Neid, Entwertung, Rivalität. Zum Wert psychoanalytischen Verstehens tabuisierter und abgelehnter Gefühle für die Pädagogik. Gießen: Psychosozial-Verlag.
MACCOBY, ELEANOR (2000): Psychologie der Geschlechter. Sexuelle Identität in den verschiedenen Lebensphasen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Sie interessieren sich für die weitere verwendete Literatur? Die Liste steht hier für Sie bereit: http://bit.ly/tps-literaturlisten
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