Bei unseren Kinderinterviews bemerken wir auch Überlegungen, die in eine andere Richtung zeigen und somit differenzierte Blicke fordern. In dieser Situation ging es um die Frage, wie das Kind seine eigene Art zu lernen entdeckt hat: Studentin:
„Und wie muss ich mir diese Zeit vorstellen?“ Arne: „Na ja, ich hatte von Schule ganz andere Ahnungen, ich dachte, ich kann da forschen und viel selbst machen. War nicht. Und meine Mama hatte schon Sorgen. Aber dann kam dieser fremde Junge in die Klasse und wurde gleich an meinen Gruppentisch gesetzt. Und der konnte scheinbar alles.“ Studentin: „Und wie war das für dich?“ Arne: „Und Henrietta und Samira fanden den gut und er vertrug sich gleich mit allen. Und da habe ich gedacht: Warte mal, da geht noch was. Und dann musste ich immer besser sein als der, das war wie so ein … ein, das kam so von innen. Und das hat bis jetzt gehalten.“
Die Soziologin Joyce L. Epstein betont, dass eine zu große Ähnlichkeit in kindlichen Freundschaften Kinder jedoch auch belasten kann. In solchen Beziehungen ist es gut möglich, dass sich Langeweile einschleicht, da alles zu vorhersehbar scheint.
Eine weitere, parallele Gefahr ist ein zunehmendes Konkurrenzdenken, da die eigene Individualität der der Individualität des Freundes zu sehr gleicht. Auf der anderen Seite sieht Epstein, dass Freundschaften, die durch zu große Unähnlichkeit gezeichnet sind, ebenfalls vor großen Herausforderungen stehen.
Wir können es drehen und wenden – Konkurrenz und das Bedürfnis, sich mit analogen Gegnern zu messen, scheint ein ursprünglicher biologischer Impuls zu sein. Wir sollten ein derartiges Verhalten nicht überbewerten, sondern distanziert begleiten. Eine ganze Reihe von werthaltigen Lernfeldern wird tangiert: die Antizipation („Lege ich mich mit dir an?“), die Wahl von Modalitäten zwischen Konfrontation und Hinterlist („Bin ich starker, geschickter, schneller, besser als du?“) bis hin zu Möglichkeiten, ohne Gesichtsverlust aus einer Sache herauszukommen („Wollen wir das mal aushandeln?“). Nicht zuletzt wird Frustrationstoleranz geübt, wie diese Beobachtung vom Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel:
Nachdem Arda eine Vier würfelte und so Gideons Hütchen rauswarf, empörte sich dieser deutlich: „Nein, nein, geht nicht, ey.“ Er ließ den Zug aber gelten und akzeptierte widerwillig den Rauswurf. Bünyamin hatte keinen guten Würfelstart, denn er warf lange keine Sechs, was ihn zunehmend ärgerte. Er schimpfte auf den Würfel und die Tischplatte. Die Mitspielenden beachteten das gar nicht. Sie waren mit ihrem Spiel, dem Zahlen und später auch dem Rauswurf beschäftigt. Die Erleichterung Bünyamins war groß, als er endlich eine Sechs würfelte: „Eine Sechs! Ich darf auch mal.“
Kooperation ade
Wenn Kinder dieses Alters mit ihren Peers Kompromisse aushandeln, etwa um ein Spielzeug zu bekommen, zeigen sie altersbedingt eher Konkurrenz- als Kooperationsverhalten. Und unsere Instrumente dagegen sind ziemlich stumpf. Erstens können wir von jungen Kindern noch keine Einsicht in Notwendigkeiten, wie prosoziales Agieren, erwarten, besonders dann nicht, wenn wir sie ausschließlich kognitiv vortragen. Hier schlagt der Biologismus, also Durchsetzen oder Fluchten, fast jegliche Argumentationsgewalt. Kinder entwickeln intensive und intime, meist gleichgeschlechtliche Freundschaften und soziale Zuneigungen, je mehr sie sich der Adoleszenz nähern. Dann wollen sie die Wünsche ihrer Freundinnen und Freunde erfüllen und versuchen, Aktivitäten zu wählen, die alle zufriedenstellen.
Der amerikanische Psychologe Thomas J. Berndt hat bereits in den 1980er-Jahren nachgewiesen, dass junge Erwachsene dann auch aufhören, mit ihren Freundinnen und Freunden zu konkurrieren und die sozialen Bedürfnisse des anderen berücksichtigen. Aber: Verschiedene jüngere Studien geben Hinweise, dass konkurrierendes Denken auch in einer Freundschaft nicht ganz verloren geht. Wenn Situationen starke Konkurrenz auslosen, konkurrieren sogar Erwachsene mehr mit einer Freundin oder einem Freund als mit Fremden.
Die Modalitäten, wie Freunde Konkurrenz handhaben oder sie vermeiden, sind abhängig von Qualität und Dauer der Beziehung. Der Sozialpsychologe Melvin J. Lerner hat die gleichzeitige Identifikation mit einem engen Freund als „einem anderen Selbst“ und die parallele Erkenntnis, dass ein Freund ein Gegenspieler, eine Freundin eine Rivalin sein kann, sehr deutlich herausgearbeitet. In ihrer Konsequenz fordert Ähnlichkeit Identifikation, und sozialer Vergleich kann zu Konkurrenz fuhren. Das zeigt sich ebenfalls in unseren Kinder- Interviews: Studentin:
„Geht es bei euch auch um ‚besser als die andere‘?“ Melinda: „Manchmal. Also wenn wir miteinander spielen nicht, wir wollen beide in die Puppenecke, aber da ist ja Platz. Besser bin ich, weil Mama mir viel mehr kauft als Ceren. Aber Ceren hat eine viel größere Familie, die hat drei Brüder. Ich hab‘ nur mich.“
Letztlich wird das Feld der Konkurrenz durch Prozesse der natürlichen Differenzierung moderiert. Kinder im Vorschulalter wissen recht genau, was sie sich zutrauen und mit wem sie sich messen wollen und können. Eine Studentin erzählt, dass sie, seit sie vier Jahre alt war, Theater spielt. Ihre erste Rolle war die einer Schneeflocke. Sie blickte voller Bewunderung auf die Älteren, die die Hauptrollen spielten. Abgelehnt hatte sie eine solche Rolle wohl nicht, resümiert sie. Aber es wäre ihr auch niemals in den Sinn gekommen, eine solche Rolle in diesem Alter – und vor allem mit den aktuellen sprachlichen Mitteln und Ausdrucksmöglichkeiten – für sich zu reklamieren. Kinder messen sich meist nur mit vergleichbaren Rivalinnen oder Rivalen. Und lernen zu siegen und zu verlieren, Kompromisse zu schließen und zu verhandeln. Im Spiel passiert das in Form von Als-ob-Situationen, und wir schauen nicht ängstlich darauf, ob das Kind Schaden nimmt. Warum also müssen Kinder immer auch realen Wettstreit suchen – mal mehr, mal weniger? Schon der Philosoph Claude Adriene Helvetius hatte eine Ahnung: „Der Wetteifer bringt die Genies hervor, und der Wunsch, sich auszuzeichnen, erzeugt die Talente.“ ◀
LITERATUR
BERNDT, THOMAS J. (1982): Fairness and friendship. In: Kenneth H. Rubin; Ross, Hildy S. (Hrsg.): Peer relationships and social skills in childhood. New York: Springer. Seite 253–278.
HELVETIUS, CLAUDE-ADRIEN (1976): Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung. Berlin (Ost) und Weimar: Aufbau Verlag. Seite 27.
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