13.10.2021
Lisa Martin, TPS Redaktion

Neues Vertrauen fassen: Der Weg zurück in den Alltag

Nach der Pandemie zurück in den Regelbetrieb – ob das so einfach wird? Verena Neumann ist Kitaleiterin in Niedersachsen und steckt gerade mittendrin. Im Interview berichtet sie von der herausfordernden Rückkehr zum pädagogischen Alltag und erzählt, warum Lachen am Ende immer noch die beste Medizin ist.

Frau Neumann, haben Sie und Ihr Team den Schritt zwischen den harten Corona-Einschränkungen und der Rückkehr in den pädagogischen Alltag als sehr abrupt empfunden?

Verena Neumann: Ja, der Schritt war abrupt – und dann auch wieder nicht. Wir waren einerseits sehr gut vorbereitet, dass es wieder zurück ins Szenario A geht (Anm. d. Red.: Szenario A tritt im Land Niedersachen ein, wenn der Inzidenzwert unter 50 liegt). Der Träger hat uns informiert, ebenso die Fachberatung und die Presse. Wir haben Informationen von der Kommune bekommen und wurden wirklich gut darauf vorbereitet. Andererseits war das Ganze auch mit einer großen Unsicherheit verbunden. Welche Regeln gelten, dürfen die Kinder wirklich wieder gruppenübergreifend in den Kontakt treten, können wir wieder Teambesprechungen in Präsenz machen, dürfen die Eltern wieder in den Kindergarten kommen?

Ist Ihnen die Rückkehr in den pädagogischen Alltag unter diesen Bedingungen schwer gefallen?

Es war schwer, zurückzufinden. In Szenario A haben sich die Regeln geändert und der pädagogischen Auftrag stand wieder im Fokus, also: bilden, erziehen und betreuen. Die Kinder sollen sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln können, wir sollen mit den Familien zusammenarbeiten, auch mit den Institutionen im Stadtteil. Aber all die Monate vorher waren wir immerzu getrennt und es gab überhaupt keinen gruppenübergreifenden oder institutionsübergreifenden Austausch mehr miteinander. Alles lief digital und trotz der Gespräche war es immer auf Distanz ausgelegt. Hinzu kam, dass unser Team sich ein halbes Jahr vor dem Lockdown auf den Weg in die offene Arbeit gemacht hatte. Wir haben uns intensiv mit dem Thema Partizipation beschäftigt und das war ein ganz jeher Abbruch dieses Prozesses, der durch die Pandemie zu einem völligen Stillstand gekommen ist und den wir bis heute noch nicht wieder gut aufnehmen konnten. Bis jetzt funktionieren die Kommunikationsstrukturen nicht so, wie vor dem Lockdown. Routinen, wie die Frühbesprechung wieder aufzunehmen, fallen schwer. Es ist, als ob alles jede Woche wieder neu gelernt werden muss. Es gab ja lange Zeit keine Frühbesprechung mehr und deshalb dauert es, jetzt wieder in einen Rhythmus zu finden. Außerdem fällt es dem Team schwer, sich wieder als Ganzes zu verstehen. Nicht nur in der Gruppe zu arbeiten, sondern auch im Gesamtteam und da den Auftrag der Einrichtung wieder umzusetzen.

In welchen spezifischen Situationen ist Ihnen aufgefallen, dass Ihr Team Schwierigkeiten hatte, zurück in die pädagogischen Alltag nach Szenario A zu finden?

Ab Mai durften sich die Kinder wieder das Mittagsessen selbstständig auftun. Das ganze Jahr zuvor war das Team angehalten, den Kindern das Essen zu geben. Diese kleine Änderung fiel einigen sehr schwer. Als ich nach ein paar Wochen Ende Mai in den Raum kam und sah, wie die Fachkräfte den Kindern das Essen auftun, habe ich sie darauf angesprochen. Da ist ihnen erst bewusst geworden: Das dürfen die Kinder jetzt wieder selbst.

Wie ist die Situation heute?

Beim Thema Essen läuft alles gut. Aber es kommen immer wieder Fragen wie: Dürfen wir jetzt mit den Eltern zusammen in Präsenz Gespräche führen? Welche Regeln müssen wir beachten? Es ist immer wieder eine Verunsicherung zu spüren, weil oft nicht klar ist, welche Regeln heute gelten. Selbst Fachkräften mit langjähriger Erfahrung sind verunsichert und kommen plötzlich mit Alltagsfragen auf mich zu, die mich überraschen, aber durch die ganzen Änderungen verständlich sind. Die Unsicherheiten beobachte ich in allen Altersstufen, von der Berufsanfängerin bis zu der Kollegin, die wir wegen Personalnotstand aus dem Ruhestand zurückgeholt haben.

Als Leiterin müssen Sie dann immer auf dem aktuellsten Stand der Dinge sein und alle organisatorischen Alltagsfragen beantworten.

Es kommen sehr viele Fragen auf mich zu, die vorher selbstverständlich waren und die das Team früher noch selbstständig lösen konnte. Ich glaube, viele holen sich über diese Kleinigkeiten wieder ein bisschen Sicherheit zurück, weil die großen Themen im Moment noch gar nicht wirklich greifbar sind. Wir haben nach dem Lockdown Kinder begrüßt, die verändert waren. Sie sind stiller geworden, blasser, haben abgenommen. Die Eltern kommen mit Themen wie Trennungen und Scheidungen, es gibt viel mehr Armut in den Familien. Wir haben einen Hilfsfond in Göttingen, den die Diakonie zur Verfügung stellt und den wir in Anspruch nehmen können. Der wird jetzt viel häufiger angefragt, weil es mehr Bedarf gibt. Ich merke, dass sich unser Bildungsauftrag mit völlig neuen Themen bestückt, und dass das Team diese große Veränderung noch gar nicht richtig greifen kann.

Wie begleiten Sie Ihr Team bei diesen neuen Herausforderungen?

Ich versuche, dass wir den Blick auf die Lösungen legen, und nicht auf die Probleme. Ich beobachte dafür viel genauer, als ich es vor dem Lockdown getan habe. Ich bin präsenter im Alltag und reflektiere immer wieder meine eigene Rolle. Was trägt mein Verhalten dazu bei, das es gerade ist, wie es ist. Ich führe mehr Gespräche mit allen Beteiligten – mit den Eltern, mit den Elternvertreter:innen, mit dem Team und mit dem Träger. Da hilft es gerade sehr, wenn ich klar bin und mehr Anweisungen gebe. Früher habe ich Freiheiten gelassen, wo ich heute sage: Ihr müsst das und das bis dann erledigt haben. Die Klarheit hilft dem Team, den Alltag zu strukturieren. Und somit auch dem Kind.

Also sind Sie im Moment eher Beobachterin als Organisatorin?

Genauso ist es. Ich bin präsenter in den Gruppen. Normalerweise bin ich freigestellt und vorwiegend im Büro. Im Moment beobachte ich viel und hospitiere, das ist so auch abgesprochen. Ich gehe nicht in die Gruppen, um zu kontrollieren, sondern ich will dem Team durch meine Beobachtungen ein Feedback geben und versuchen, die Sicherheit wiederherzustellen, die die Fachkräfte vor der Pandemie hatten. Dabei ist offene Kommunikation und Transparenz sehr wichtig. Und natürlich positives Feedback und Lösungsstrategien.

Wie sieht es mit den Kindern aus? Fällt ihnen der Übergang ins Szenario A leichter?

Bei den Kindern ist das nicht so offensichtlich. Augenscheinlich ist bei ihnen alles beim Alten. Die Gruppen sind wieder offen, sie bewegen sich wieder frei, sie treffen wieder mehr Entscheidungen, sie können sich mit den Kindern aus anderen Gruppen verabreden. Aber wenn man genauer hinsieht, bemerke ich auch da Veränderungen. Es ist eher ein Gefühl, aber ich empfinde, dass die Kinder blasser sind, weinerlicher. Auch Kinder, bei denen ich das vorher gar nicht so beobachtet habe. Viele sind jetzt stark erkältet und lange krank. Das liegt vielleicht auch an der Situation, dass wir letztes Jahr die Kontakte beschränkt haben. Aber generell finde ich, dass viele nicht mehr so neugierig und ungezwungen sind, wie vor der Pandemie. Es fehlt eine gewisse Leichtigkeit.

Haben Sie hier auch eine Strategie, wie Sie den Kindern begegnen können?

Ich mache viele Witze und bringe die Kinder zum Lachen. Und dann versuche ich, dass sich die Kinder an dieses Gefühl erinnern. Ich sage den Kindern: „Ah, du lachst gerade, das sehe ich an deinen Augen. Du scheinst gerade ganz fröhlich zu sein!“ Ich mache sie also darauf aufmerksam, was in solchen fröhlichen Momenten in ihrem Körper passiert. Ich möchte, dass sie das später wieder abrufen können, wenn es ihnen mal schlecht geht. Und anscheinend funktioniert das ganz gut. Wie ein Zurückfinden ins Wohlbefinden oder ein positiver Blick in die Zukunft. Und das gebe ich auch an mein Team weiter. Jeder sollte in der pädagogischen Arbeit immer mal wieder reflektieren: Wann habe ich das letzte Mal an meinem Arbeitsplatz mit den Kindern so richtig gelacht?

Sind Sie in Kontakt mit anderen Leitungen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben?

Ja. Die Situation ist nicht überall gleich, aber sie ist doch sehr ähnlich. Ich bin sehr froh über den Austausch mit anderen Leitungen, vor allem, weil ich einfach anrufen und sagen kann: „Ich weiß gerade nicht weiter. Hast du eine Idee, was ich machen könnte?“ Dieses Netzwerk ist aber nicht erst durch Corona entstanden, das war Gott sei Dank vorher schon da. Und jetzt ist es umso besser, dass es Strukturen gibt und dass ich nicht alleine bin. Wir geben uns gegenseitig viel Unterstützung.

Wo stehen Sie gerade mit dem offenen Konzept?

Wir stehen noch nicht wieder da, wo wir vor dem Lockdown standen. Ich habe auch das Gefühl, dass wir nicht genau dort weitermachen können, wo wir waren. Ich könnte jetzt zum Beispiel nicht mit einer Kinderkonferenz ankommen, das wäre zu viel. Deshalb gehe ich lieber noch einmal zurück zu den Basics und baue alles komplett neu auf, um erstmal wieder die einfachen Sachen in einen Rhythmus zu bringen und dann neu abzusprechen. Ich glaube, dass die Arbeit, die ich jetzt mehr investiere, sich irgendwann auszahlt. Dann können wir später schnellere Schritte gehen. Das hat nicht nur etwas mit Corona zu tun. Seit der Pandemie gab es auch andere Veränderungen wie Wechsel im Team durch Schwangerschaft und Umzug. Deshalb finde ich einen Neuanfang gut.

Verena Neumann arbeitet als Leiterin einer evangelischen Kita in Göttingen.

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