Mein Kollege, der diese Rolle der Einschlafbegleitung für gewöhnlich übernimmt, an diesem Tag aber zum Vorle-sen eingeteilt war, hatte mir einen kleinen Jungen mit einem Tragegurt zum Einschlafen auf die Brust geschnallt. Der Knabe blickte zwar gelegentlich nach oben, um sich zu vergewissern, wer ihn da heute durch die Gegend trug, legte aber kurz danach sein Köpfchen, gelegentlich noch die Position wechselnd, sanft an meine Schulter. Gemeinsam kamen wir zu Ruhe. Er, weil ich ihn sanft wiegend um-hertrug, gelegentlich sein Köpfchen haltend und bedacht darauf, ihn vor lauten Geräuschen zu bewahren; ich, weil das Vertrauen des Kindes und ein intuitiv aufwallendes Gefühl von Fürsorglichkeit alles andere überwog.
Einschlafhilfen – oder auch nicht!
Nachdem der Junge eingeschlafen und in sein Bettchen gelegt worden war, stellten wir fest, dass Alva, das neben ihm liegende Mädchen, entgegen unse-rer Erwartung nicht eingeschlafen bzw. wieder aufgewacht war. Also begann ich einen Singsang, der einschläfernd wirken sollte, es aber offensichtlich nicht tat. Alva beschäftigte sich mit ih-rem Hausschuh, den sie vor ihren Au-gen hin und her manövrierte, was sie eindeutig am Schlafen hinderte.
Überrascht war ich, dass sie meiner Empfehlung, den Hausschuh zur Seite zu legen, sogleich nachkam. Ich fasste ihre Hand, die sie mir nicht entzog, und begann spontan, mir irgendeine Geschichte auszudenken.
„Es war einmal ein Mäuslein, das gerne allein aus seinem Mauseloch krabbelte und die Welt erkundete, bei Sonne und bei Regen. Es störte sie nicht, wenn es regnete ...“ und so weiter. Irgendwann wurde es für das Mäuschen gefährlich, weil eine Krähe auftauchte. Aber die Sache verlief glimpflich, die Maus konnte sich hinter einem Stein verstecken, und beim nächsten Mal begleitete ihre Mama sie beim Ausflug und passte auf. Ich pausierte kurz, hatte wohl einen Moment den Faden verloren oder wusste selber nicht, ob die Geschichte zu Ende war und ihren Zweck erfüllt hatte, denn die Augen von Alva schienen geschlossen. Da ertönte es von ihrer Seite her mit wacher Stimme: „Noch mal!“ Was blieb mir anderes übrig, als die Geschichte noch einmal von vorn zu beginnen.
„Es war einmal ein Mäuslein ...“ Erstaunlicherweise konnte ich mich an alle wesentlichen Details meiner zusammenfabulierten Geschichte erinnern, schmückte sie hier und da noch aus. Innerlich musste ich lachen, und genau diese entspannte Haltung war ent-scheidend. Denn hätte ich mich darüber geärgert, dass Alva nicht eingeschlafen war, oder über meine offensichtliche Unfähigkeit, Kindern beim Einschlafen förderlich zu sein, dann hätte sie diese Unzufriedenheit und die damit verbundene Unruhe wahrscheinlich gespürt. So aber nahm ich es sportlich, freute mich sogar, denn offensichtlich hatte ihr meine Geschichte ja gefallen. Gegen Ende der Geschichte baute ich noch ein paar Elemente des „Autogenen Trainings“ ein, ließ das Mäuslein in der Geborgenheit des Mauseloches auf weichem Moos und nach Wald duftenden Blättern ruhen, dabei Körper und Augenlider schwer werden. Ja, und da war sie eingeschlafen.