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„Selbst das ganz junge Kind hat Anspruch auf wirkliche Kunst, jedes Musizieren soll ihm schon ein Erlebnis sein, das es beglückt und eventuell für Tage in seiner Erinnerung fortlebt. Weil aber nun das Musizieren ganz bestimmte Ziele verfolgt, soll es nicht als Spielerei betrachtet werden, die nur dann und wann einmal stattfindet, sondern es muss mit einer gewissen Regelmäßigkeit ausgeübt werden, der ein Plan zugrunde liegt, welcher aufbaut und das Kind in seinen musikalischen Anlagen entwickelt und es fortschreiten lässt. Dem hat das Studium der (Erzieher-)Schülerin Rechnung zu tragen.“
Nein, das steht nicht in einem aktuellen Bildungs- oder Ausbildungsplan, sondern in dem, wie wir es heute nennen würden, musikalischen Bildungsgesamtplan der Weimarer Republik.
Vor gut 100 Jahren erschien ein Buch, das Musik zu einem pädagogischen Fach gemacht, also die Grundlage gelegt hat für das, was wir heute Musikpädagogik nennen. 1921 erschien in Leipzig „Musikerziehung und Musikpflege“ von Leo Kestenberg, einem Pianisten und Musikpädagogen.
Leo Kestenberg? Nur wenige können mit diesem Namen etwas verbinden. An ihn, seine Ideen und seine Leistung zu erinnern bedeutet, unsere heutigen Defizite in der Musikbildung deutlich zu erkennen, vielleicht sogar, Handlungsmuster für aktuell notwendige Auseinandersetzungen zu finden. Kestenberg wollte Bildungsschranken überwinden, wollte den Klassencharakter musikalischer Bildung aufbrechen. Er hat groß gedacht, hat Traditionen und Ideen ineinandergreifen lassen, hat viele bunte Blumen dabei blühen lassen, war nicht dogmatisch, aber durch und durch politisch, im Sinne eines Zoon politikon. Qualitätsmaßstäbe waren ihm entscheidend – er hat hierzu die Überschriften in den Ausbildungswegen von Erzieher:innen und Grundschullehrer:innen benannt. In der Frage, wie diese zu erreichen sind, war er offen.
Leo Kestenberg wurde 1882 in Rosenberg in der k. u. k. österreichisch- ungarischen Monarchie geboren und starb 1962 in Tel Aviv. Dazwischen lag ein Leben in Prag, Reichenberg, Zittau, Berlin, dann die Flucht des Juden und Sozialdemokraten wieder nach Prag, dann nach Paris und Tel Aviv. Kestenberg war Pianist und gefeierter Liszt-Interpret, war Kultur- und Bildungspolitiker, als Ausländer, Jude, Sozialist und Nichtakademiker Referent und Abteilungsleiter im Preußischen Kultusministerium, war Klavierlehrer, Hochschullehrer und musikalischer Berater der Berliner Volksbühne, war Autor und im ständigen Austausch mit nahezu allen Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er blieb sein Leben lang aktiver Künstler und aktiver Bildungspolitiker.
Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen waren für Kestenberg die ideelle Grundlage all seines Denkens und Handelns, die allgemeine Volksbildung sein Ziel. „Mit Musikunterricht die Gesamtheit unserer Gesellschaft durch kulturelle Teilhabe an ihren kulturellen Besitz heranzuführen“ (Jürgen Oberschmidt 2021), ist die Leitidee Kestenbergs. Die Bedeutung der Musik liegt für ihn darin, dass mit ihr alle Menschen „eine über die Not des Alltags erhebende Erfahrung“ machen können, sie also auf gleiche Weise bildet und in ihrer Menschenwürde stärkt.
Heute haben wir stattdessen Verbände mit klaren Interessenvertretungen, die definieren, wie und vor allem durch wen die musikalische Bildung zu erreichen ist. Mit dem Ergebnis: Seit Jahrzehnten bewegt sich nichts. Man möchte schreien: Lest Kestenberg! Er steht für eine Professionalisierung des Musikunterrichts, aber auch dafür, den Unterricht insgesamt zu musikalisieren. Er steht für eine Erzieher:innenausbildung mit einem festen musikalischen Standbein – und eben nicht dafür, musikalische Bildung einmal pro Woche externen Musikpädagog:innen zu überlassen.
An den kulturellen, den musikalischen Besitz heranzuführen, ist eine tägliche pädagogische Aufgabe – mit hinreißenden Ergebnissen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Überwindung unserer deutschen Chancenungerechtigkeit in der Bildung am besten und am erfolgreichsten durch eine frühe musikalische Bildung zu schaffen ist.
Musik erreicht alle Kinder, völlig unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund. Sie gibt ihnen die Basis für ihre Sprachentwicklung, für Bewegung, räumliches Wahrnehmen, für mathematische Grundlagen, soziales Miteinander, fürs Gestalten. Sie zeigt ihnen Wege zu den eigenen Emotionen und den Gefühlen anderer. Und sie macht Freude – eine der Grundbedingungen fürs Lernen-Können.
Der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und weltweit gefeierte Pianist Daniel Barenboim verfolgt seit langem bildungspolitische Ziele: Er hat die Musikkindergärten in Ramallah, Sevilla und Berlin initiiert, die staatlich anerkannte Musikhochschule „Barenboim-Said-Akademie“ gegründet und nun in Berlin-Pankow eine Musikalische Schule auf den Weg gebracht. Als zehnjähriger Junge war Barenboim mit seinen Eltern Nachbar des damals 70-jährigen Leo Kestenberg in Tel Aviv. Der zu jener Zeit schon international als Pianist auftretende Junge besuchte gerne nach der Schule den kundigen Nachbarn. Hier wurde wohl das Feuer für das bildungspolitische Engagement Barenboims gelegt.
In dieser Tradition sollten wir nach Wegen suchen, aus den machtpolitischen Interessenkonflikten herauszukommen, Kestenberg mit seinem weiten Blick zu folgen und weiterzudenken und Ausbildungswege an den Hochschulen, Fachschulen, Universitäten zu verändern. Initiativen hierzu brauchen irgendwann politische Unterstützung. Zuvor braucht aber die Politik Unterstützung, solche Bildungswege denken zu können. Hieran sollten alle mitwirken, die Interesse daran haben, dass eine musikalische Bildung wieder für alle Kinder selbstverständlich wird. Denn es gilt nach wie vor: Kinder brauchen Musik!
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