Welches Verhalten zeigen Kinder, die unter Gewalteinfluss stehen?
Es gibt mögliche Anzeichen, die dafürsprechen, dass einem Kind Gewalt in der Einrichtung oder zu Hause widerfahren könnte. Wenn ein Kind zum Beispiel sehr still wird, anfängt einzunässen, am Daumen zu lutschen oder in seiner Entwicklung zurückfällt. Oder wenn man Hämatome, also blaue Flecken, am Körper entdeckt. Manche Kinder reden auch proaktiv darüber – leider glauben die Eltern ihnen dann oft nicht.
Was sind die ersten Schritte bei einem Fall der Kindeswohlgefährdung?
Falls es einen Verdacht gibt, ist die Dokumentation sehr wichtig. Hier empfehle ich einheitliche Dokumentationsbögen, mit Datum und konkreten Informationen. Persönliche Meinungen und Empfindungen gehören hier nicht rein. Ich habe für solche Dokumentationen die „Fünf goldenen W-Regeln“ entwickelt: Was habe ich gesehen/ wurde mir erzählt? Wann ist es geschehen? Wo ist es geschehen? Wer war beteiligt? Was habe ich bislang unternommen? Die Dokumentation ist für das weitere Vorgehen wichtig, um sich kurz und prägnant einlesen zu können und anschließend schnell handeln zu können.
Wie geht es dann weiter?
Der reguläre Vorgang wäre, dass die Kita, nach Paragraf 8a des Sozialgesetzbuches, eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuzieht. Diese beratende Person soll bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung die Lage einschätzen und sich mit der Kita-Leitung besprechen. Zusammen leiten sie dann alles Weitere in die Wege. Wenn das Kind Gewalt im häuslichen Kontext erlebt, holt man das Jugendamt mit ins Boot. Ist die Fachkraft die gewaltausübende Person, ist der Fall komplizierter. Wenn Eltern einen solchen Fall melden, wird das bedauerlicherweise nicht immer von der Einrichtung an das zuständige Jugendamt gemeldet. Falls die Kita das Amt doch einschaltet, prüft dieses den Fall und spricht mit der Einrichtung. Doch schließen werden sie die Kita nicht: Sie brauchen ja die Plätze. Die betroffene Fachkraft wird, wenn überhaupt, je nach Fall verwarnt – oder gekündigt. Oft sagt man den Eltern im Anschluss jedoch nicht, was ihre Meldung tatsächlich gebracht hat, und welche Maßnahmen folgen.
Was kann der Träger präventiv tun?
Oft nimmt der sich aus der Verantwortung. Dabei ist er für eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung verantwortlich. Erstens wäre es gut, wenn er sich dafür einsetzen würden, dass man an den Fachschulen eine Ausbildungsvergütung einführt. Auch im klassischen Ausbildungsbereich. Entlastung ist eine gute Prävention gegen Gewalt. Eine pädagogische Fachkraft hat so mehr Möglichkeiten, sich intensiv mit den einzelnen Kindern auseinanderzusetzen. Zweitens darf es so etwas wie ungelerntes Personal nicht geben. Während Corona wurden in fast allen Bundesländern Verordnungen zwischen den Landesjugendämtern und den zuständigen Ministerien beschlossen, die es erlauben, den Personalschlüssel wesentlich zu unterschreiten und mit ungelernten Zusatzkräften zu arbeiten. Da fasse ich mir an den Kopf. Schutz soll hier das erweiterte Führungszeugnis sein, doch das ist nur eine erste kleine Sicherheitsschwelle. Von vielen Täterpersonen weiß man, dass sie lange Zeit Kinder sexuell missbrauchen und trotzdem nicht einschlägig vorbestraft sind – ergo haben sie auch keinen Eintrag im erweiterten Führungszeugnis. Da, wo wir schutzbedürftige Menschen betreuen, brauchen wir die besten Schutzstandards – keine Experimente. Ungelernte Zusatzkräfte als Notnagel, für eine extreme Überbelastung in einem so sensiblen Betreuungsbereich sind für mich ein Experiment.
Auch Kinder können gewalttätig sein. Wie erkennt man das und wie handelt man?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Auch die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen liegt – wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht – in den letzten Jahren konstant bei 30 Prozent. Kinder sind zwar nicht strafmündig, dennoch erfasst die Polizei die gemeldeten Fälle. Es steckt ein Grund dahinter, wenn Kinder Gewalt ausüben. Den muss man herausfinden. Auch hier würde ich empfehlen, eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuzuziehen. Bei gewalttätigen, aggressiven Kindern muss man immer auf das Bindungssystem, zu den Bezugspersonen schauen. Bei sexuell übergriffigen Kindern muss es nicht so sein, dass sie selbst sexualisierte Gewalt erleben. Das muss man individuell sorgsam Abwegen, und im besten Fall holt sich die Einrichtung Hilfe bei einer spezialisierten Beratungsstelle oder dem Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“.
Wie spricht man mit Kindern über das Thema?
In jeder Kita müssen die Fachkräfte das Thema Kinderrechte besprechen. Auch das ist ein Bestandteil des Schutzkonzepts. Kinder haben Rechte – zehn Kinderrechte – das muss man mit den Kindern in der Kita proaktiv erarbeiten. Das geht wunderbar, indem man zusammen Bilder malt, Poster erstellt oder aktiv darüber spricht.
Welchen Rat möchten Sie unseren Leser:innen noch mitgeben?
Ich beglückwünsche alle Menschen, die Pädagoginnen sind. Sie haben einen sehr wichtigen Job: Sie kümmern sich um eine besonders vulnerable Personengruppe. Aber ich finde auch, dass die Haltung entscheidend ist. Vergessen Sie nie, warum Sie sich irgendwann einmal dazu entschlossen haben, pädagogische Fachkraft zu werden. Auch, wenn es noch so stressig ist: Versuchen Sie sich immer daran zu erinnern, warum Sie sich für diesen wichtigen und verantwortungsvollen Beruf entschieden haben. Wenn Sie kurz vor durchgebrannten Nerven stehen: gehen Sie raus, atmen Sie durch und besinnen Sie sich! Wenn sie aber merken, dass Sie ausgebrannt sind und dass es nicht mehr geht – dann hängen sie diesen Beruf lieber an den Nagel. Das ist besser, als auch nur einmal die Hand gegen ein Kind zu erheben. Und seien Sie mutig und melden Sie übergriffiges Verhalten von Kolleginnen und Kollegen. Kinderschutz ist ein Standard und kein Ziel.
Josefine Barbaric ist Autorin und Trainerin für Gewaltprävention mit einer Spezialisierung auf das Thema "Sexualisierte Gewalt an Kindern". Mehr Infos finden Sie unter https://josefinebarbaric.de/.
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