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Josefine Barbaric: Wir haben bundesweit nicht ausreichend Personal. In den letzten Jahren wurde schlichtweg versäumt, das Problem des Personalmangels anzugehen – hier nehme ich vor allem die Politik in die Verantwortung. Die hätte die Zeit und das Geld aus dem Gute-KiTa-Gesetz nutzen können, um den Beruf der pädagogischen Fachkräfte wieder attraktiver für junge Menschen zu machen. Denn wer entscheidet sich nach der Schule schon für eine Ausbildung, bei der man wegen des schlechten Gehalts noch für fünf weitere Jahre finanziell von den Eltern abhängig bleibt? Wir brauchen eine angemessene Bezahlung und bessere Ausbildungsbedingungen! Doch Geld allein löst das Problem nicht – es braucht kreative Ansätze. Und die Schieflage, die man in den frühkindlichen Betreuungseinrichtungen sieht, ist Zeichen kollektiver Ideenlosigkeit des politischen Raums, an den richtigen Stellschrauben zu drehen.
Ja. Seit 2013 haben Eltern durch den Kita-Rechtsanspruch ein Recht auf einen Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr ihres Kindes. Beim Ausbau der Quantität hat man allerdings vergessen, auch die Qualität zu verbessern. Und die fängt schon bei der Ausbildung einer Fachkraft an. Das ist ein weiterer Punkt, warum es heute mehr Gewalt in Kitas gibt: die unzureichende Aufklärung über das Thema. An den Fachhochschulen und Schulen kommen die Themen Gewaltschutz und Gewaltprävention so gut wie nicht vor.
Nach dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz Paragraf 45 im Sozialgesetzbuch ist nun jede Kita dazu verpflichtet, ein Konzept zum Schutz vor Gewalt anzuwenden und zu überprüfen. Ein solches Schutzkonzept muss ein Team selbstständig entwickeln, um die Kinder vor Gewalt zu schützen. Dafür gibt es verschiedene Methoden, etwa eine Verhaltensampel. Die Fachkräfte bestimmen gemeinsam: Was ist pädagogisch korrektes Verhalten – also grün –, was ist eher grenzwertig – gelb – und was ist grenzüberschreitend – rot. Das Team diskutiert darüber, bis es eine gemeinsame Haltung gefunden hat. Stellt man dann bei einer Kollegin oder einem Kollegen grenzüberschreitendes Verhalten fest, muss man intervenieren. Das eigene Verhalten zu reflektieren, macht sensibler – auch im Umgang mit Kindern. Das Beschwerdemanagement, das vom Schutzkonzept auch vorgesehen ist, bringt die übergriffigen Fachkräfte unter Kontrolle und den anderen Kolleginnen und Kollegen gibt es Sicherheit.
Das bedeutet: In Zukunft sollen das Verhalten und die Arbeit von pädagogischen Fachkräften messbar werden. Da wir es hier mit einer besonders vulnerablen Personengruppe zu tun haben, ist so ein Whistleblower-System gut. Kinder haben das Recht auf Schutz. Doch sie können nur von diesem Schutz profitieren, wenn pädagogische Fachkräfte eigenes Fehlverhalten erkennen. Da wir das selbst häufig nicht können, brauchen wir Menschen, die unser Verhalten bewerten und mit denen wir uns konstruktiv darüber austauschen können. Kritik sollte man allerdings nicht abwertend formulieren, sondern vielmehr mit Ich-Botschaften arbeiten: Ich bitte Dich, mit dem Schreien aufzuhören, dass widerspricht unserem Verhaltenskodex und ist inakzeptabel. Ich möchte deutlich machen, das wollen wir hier nicht.
Am häufigsten kommt die emotionale Gewalt vor, denn die geht anderen Gewaltformen voraus. Doch die psychische mündet leicht in physische Gewalt. Das Kleinmachen, Beleidigen, nicht Ernstnehmen – Gewalt beginnt mit dem Wort. Und Wörterkanonen können sehr weh tun. Ein stark verbreitetes Problem in Kitas ist außerdem der Essenszwang. Wenn Sie zu mir nach Hause kommen und ich etwas gekocht habe, das Ihnen schon auf dem Teller nicht gefällt – wie würden Sie sich fühlen, wenn ich Ihnen davon ungefragt einen Löffel in den Mund schiebe? Sie sind zum Glück erwachsen und da gelten oft andere Regeln. Aber diese Regeln gelten eben auch bei Kindern! Denn Kinder sind eigenständige rechtliche Persönlichkeiten. Essenzwang ist ebenso wie Schlafzwang oder Toilettenzwang eine Form von Gewalt. Dabei ist es wichtig, dass Kinder ihre Selbstbestimmtheit lernen und diese Dinge selbstständig machen.
Es gibt mögliche Anzeichen, die dafürsprechen, dass einem Kind Gewalt in der Einrichtung oder zu Hause widerfahren könnte. Wenn ein Kind zum Beispiel sehr still wird, anfängt einzunässen, am Daumen zu lutschen oder in seiner Entwicklung zurückfällt. Oder wenn man Hämatome, also blaue Flecken, am Körper entdeckt. Manche Kinder reden auch proaktiv darüber – leider glauben die Eltern ihnen dann oft nicht.
Falls es einen Verdacht gibt, ist die Dokumentation sehr wichtig. Hier empfehle ich einheitliche Dokumentationsbögen, mit Datum und konkreten Informationen. Persönliche Meinungen und Empfindungen gehören hier nicht rein. Ich habe für solche Dokumentationen die „Fünf goldenen W-Regeln“ entwickelt: Was habe ich gesehen/ wurde mir erzählt? Wann ist es geschehen? Wo ist es geschehen? Wer war beteiligt? Was habe ich bislang unternommen? Die Dokumentation ist für das weitere Vorgehen wichtig, um sich kurz und prägnant einlesen zu können und anschließend schnell handeln zu können.
Der reguläre Vorgang wäre, dass die Kita, nach Paragraf 8a des Sozialgesetzbuches, eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuzieht. Diese beratende Person soll bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung die Lage einschätzen und sich mit der Kita-Leitung besprechen. Zusammen leiten sie dann alles Weitere in die Wege. Wenn das Kind Gewalt im häuslichen Kontext erlebt, holt man das Jugendamt mit ins Boot. Ist die Fachkraft die gewaltausübende Person, ist der Fall komplizierter. Wenn Eltern einen solchen Fall melden, wird das bedauerlicherweise nicht immer von der Einrichtung an das zuständige Jugendamt gemeldet. Falls die Kita das Amt doch einschaltet, prüft dieses den Fall und spricht mit der Einrichtung. Doch schließen werden sie die Kita nicht: Sie brauchen ja die Plätze. Die betroffene Fachkraft wird, wenn überhaupt, je nach Fall verwarnt – oder gekündigt. Oft sagt man den Eltern im Anschluss jedoch nicht, was ihre Meldung tatsächlich gebracht hat, und welche Maßnahmen folgen.
Oft nimmt der sich aus der Verantwortung. Dabei ist er für eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung verantwortlich. Erstens wäre es gut, wenn er sich dafür einsetzen würden, dass man an den Fachschulen eine Ausbildungsvergütung einführt. Auch im klassischen Ausbildungsbereich. Entlastung ist eine gute Prävention gegen Gewalt. Eine pädagogische Fachkraft hat so mehr Möglichkeiten, sich intensiv mit den einzelnen Kindern auseinanderzusetzen. Zweitens darf es so etwas wie ungelerntes Personal nicht geben. Während Corona wurden in fast allen Bundesländern Verordnungen zwischen den Landesjugendämtern und den zuständigen Ministerien beschlossen, die es erlauben, den Personalschlüssel wesentlich zu unterschreiten und mit ungelernten Zusatzkräften zu arbeiten. Da fasse ich mir an den Kopf. Schutz soll hier das erweiterte Führungszeugnis sein, doch das ist nur eine erste kleine Sicherheitsschwelle. Von vielen Täterpersonen weiß man, dass sie lange Zeit Kinder sexuell missbrauchen und trotzdem nicht einschlägig vorbestraft sind – ergo haben sie auch keinen Eintrag im erweiterten Führungszeugnis. Da, wo wir schutzbedürftige Menschen betreuen, brauchen wir die besten Schutzstandards – keine Experimente. Ungelernte Zusatzkräfte als Notnagel, für eine extreme Überbelastung in einem so sensiblen Betreuungsbereich sind für mich ein Experiment.
Das ist eine sehr wichtige Frage. Auch die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen liegt – wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht – in den letzten Jahren konstant bei 30 Prozent. Kinder sind zwar nicht strafmündig, dennoch erfasst die Polizei die gemeldeten Fälle. Es steckt ein Grund dahinter, wenn Kinder Gewalt ausüben. Den muss man herausfinden. Auch hier würde ich empfehlen, eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuzuziehen. Bei gewalttätigen, aggressiven Kindern muss man immer auf das Bindungssystem, zu den Bezugspersonen schauen. Bei sexuell übergriffigen Kindern muss es nicht so sein, dass sie selbst sexualisierte Gewalt erleben. Das muss man individuell sorgsam Abwegen, und im besten Fall holt sich die Einrichtung Hilfe bei einer spezialisierten Beratungsstelle oder dem Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“.
In jeder Kita müssen die Fachkräfte das Thema Kinderrechte besprechen. Auch das ist ein Bestandteil des Schutzkonzepts. Kinder haben Rechte – zehn Kinderrechte – das muss man mit den Kindern in der Kita proaktiv erarbeiten. Das geht wunderbar, indem man zusammen Bilder malt, Poster erstellt oder aktiv darüber spricht.
Ich beglückwünsche alle Menschen, die Pädagoginnen sind. Sie haben einen sehr wichtigen Job: Sie kümmern sich um eine besonders vulnerable Personengruppe. Aber ich finde auch, dass die Haltung entscheidend ist. Vergessen Sie nie, warum Sie sich irgendwann einmal dazu entschlossen haben, pädagogische Fachkraft zu werden. Auch, wenn es noch so stressig ist: Versuchen Sie sich immer daran zu erinnern, warum Sie sich für diesen wichtigen und verantwortungsvollen Beruf entschieden haben. Wenn Sie kurz vor durchgebrannten Nerven stehen: gehen Sie raus, atmen Sie durch und besinnen Sie sich! Wenn sie aber merken, dass Sie ausgebrannt sind und dass es nicht mehr geht – dann hängen sie diesen Beruf lieber an den Nagel. Das ist besser, als auch nur einmal die Hand gegen ein Kind zu erheben. Und seien Sie mutig und melden Sie übergriffiges Verhalten von Kolleginnen und Kollegen. Kinderschutz ist ein Standard und kein Ziel.
Josefine Barbaric ist Autorin und Trainerin für Gewaltprävention mit einer Spezialisierung auf das Thema "Sexualisierte Gewalt an Kindern". Mehr Infos finden Sie unter https://josefinebarbaric.de/.
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