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Unter Bindungsstörungen versteht man pathologische Beziehungsmuster von Kindern gegenüber ihren Bezugspersonen, in denen eine extreme Störung der Bindungs- Explorations-Balance zu beobachten ist. Bindungsstörungen kommen sehr selten und nur unter extremen familiären Bedingungen vor, in denen das Kind keine Erfahrungen von kontinuierlicher Zuwendung durch stabile Bindungspersonen machen kann, oder aber bestehende Bindungsbeziehungen von Vernachlässigung und/oder Misshandlungen geprägt sind oder es zu (mehrfachen) Bindungsabbrüchen kommt. Kinder, die die klinische Diagnose einer Bindungsstörung erhalten, zeigen eine deutlich gestörte soziale Beziehungsfähigkeit, unabhängig von der Bezugsperson. Die Diagnose der Bindungsstörung wird für Kinder zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr gestellt. Nach dem ICD-10 unterscheidet man die „Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1)“ und die „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2)“. Beide Störungen werden unter der Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ aufgeführt. Bindungsstörungen beginnen meist in den ersten fünf Lebensjahren.
Hauptmerkmal einer reaktiven Bindungsstörung ist ein abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen, das sich vor dem 5. Lebensjahr entwickelt. Jüngere Kinder zeigen stark widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen, die bei Verabschiedung oder Wiederbegegnungen am besten sichtbar werden. So können sich die Kinder mit abgewandtem Gesicht nähern oder den Blick deutlich in eine andere Richtung wenden, während sie gehalten werden. Sie können mit einer Mischung aus Annäherung, Vermeidung und Widerstand gegen Zuspruch auf Betreuungspersonen reagieren. Viele normale Kinder zeigen Unsicherheit in ihrer selektiven Bindung an den einen oder anderen Elternteil. Dies sollte nicht mit der reaktiven Bindungsstörung verwechselt werden. Reaktive Bindungsstörungen treten nahezu immer bei grob unangemessener Kinderbetreuung auf wie psychischem Missbrauch oder Vernachlässigung, brutaler Bestrafung, ständigem Ausbleiben von Reaktionen auf kindliche Annäherungsversuche oder grob unangebrachtem elterlichem Verhalten, körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung, andauernder Missachtung der grundlegenden körperlichen Bedürfnisse des Kindes, wiederholten vorsätzlichen Verletzungen oder unzureichender Nahrungsversorgung. Deprivation und gestörtes Milieu sind keine diagnostischen Bedingungen, dennoch ist die Diagnose ohne Hinweis darauf mit Vorsicht zu stellen. Andererseits zeigen nicht alle misshandelten oder vernachlässigten Kinder diese Störung (Möller, Laux & Deister, 2009).
Diese Form ist durch ein diffuses, nicht-selektives, stark aufmerksamkeitssuchendes und wahllos freundliches Bindungsverhalten charakterisiert. Demnach findet man diese Form der Bindungsstörung häufig bei hospitalisierten und institutionalisierten Kindern, welche bislang wenig bis keine Möglichkeiten in ihrem Leben hatten, langfristige und emotional stabile Bindungen zu präsenten Bezugspersonen aufzubauen. So suchen diese Kinder bei Unglücklichsein entweder keinen Trost bei anderen Personen oder suchen diesen wahllos und auch bei ihnen unvertrauten Personen, womit ein Fehlen der selektiven sozialen Bindungen deutlich wird. Um die Diagnose sicher stellen zu können, müssen die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten nicht nur in einigen wenigen Situationen auftreten, sondern in einem großen Bereich des sozialen Umfelds des Kindes manifestiert sein (Möller, Laux & Deister, 2009).
Bindungsstörungen sind also medizinische beziehungsweise klinische Diagnosen, die nur von geschulten Kinderärzten und insbesondere von Fachärzten für Kinderund Jugendpsychiatrie gestellt werden können. Es gibt so gut wie keine systematische Forschung zur Häufigkeit von Bindungsstörungen. Man geht davon aus, dass Bindungsstörungen in der Gesamtpopulation sehr selten vorkommen (ca. 1 %). In einer Untersuchung zu Pflegekindern in Deutschland haben Ina Bovenschen und Gottfried Spangler (2014) gezeigt, dass zwar viele der untersuchten Pflegekinder vereinzelte Symptome von Bindungsstörungen aufwiesen, dass aber deutliche Symptome für eine gehemmte Bindungsstörung nur bei ca. 5 % der Pflegekinder zu beobachten waren, während immerhin 30 % der untersuchten Pflegekinder deutliche Symptome für eine enthemmte Bindungsstörung zeigten. Die Mehrheit der Pflegekinder, die aufgrund von vorheriger Vernachlässigung und/oder Misshandlung in eine Pflegefamilie gekommen waren, zeigte keine eindeutigen Symptome, die zur Diagnose einer Bindungsstörung geführt hätten (Bovenschen & Spangler, 2014; Kliewer-Neumann et al. 2015). Fachkräfte sollten also auf keinen Fall vorschnell bei Kindern von einer „Bindungsstörung“ sprechen und dadurch diese Kinder und auch ihre Familien schwer stigmatisieren und beschädigen. Fallen pädagogischen Fachkräften im Verhalten von Kindern wiederholt Anzeichen auf, die auf eine Bindungsstörung hinweisen könnten, sollten sie nach kollegialer Beratung im Team unbedingt Fachdienste, wie etwa interdisziplinäre Frühförderstellen und/oder Kinderärzte, hinzuziehen. Die Behandlung von Bindungsstörungen erfolgt bei einem Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten oder einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Bovenschen, I. & Spangler, G. (2014): Bindungstheoretische Aspekte von Fremdplatzierung. Praxis der Rechtspsychologie, 24, S. 374–406.
ICD-10 – Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2018): ICD-10-GM Version 2019, Systematisches Verzeichnis, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision. Köln. Abgerufen unter www.dimdi.de – Klassifikationen – Downloads – ICD-10-GM – Version 2019 am 03.07.2020.
Kliewer-Neumann, J. D., Bovenschen, I., Roland, I. C., Lang, K., Spangler, G. & Nowacki, K. (2015): Interviewtechnik zur Erfassung von Bindungsstörungssymptomen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 64, S. 759–773.
Möller, H.-J., Laux, G. & Deister, A. (2009): Psychia trie und Psychotherapie. München/Wasserburg/Itzehoe: Thieme Verlag.
Spangler, G. & Bovenschen, I. (2013): Bindung und Bindungserfahrungen: Konsequenzen für Resilienz und Vulnerabilität im kritischen familiären Kontext. Familie, Partnerschaft, Recht, 19, S. 203–207.
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