02.07.2019
Anita Knöller
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Prävention: Was ist Gewalt und wie können wir sie verhindern?

Nicht nur körperliche, seelische und sexualisierte (aktive) Gewalt sind eine Form von Gewalt gegen Kinder, sondern auch physische, emotionale und soziale Vernachlässigung und Verwahrlosung als passive Form. Die fehlende Zuwendung kann je nach Ausprägung mehr oder weniger stark die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen, mit Auffälligkeiten im kognitiven und emotionalen Bereich, im somatischen und psychosomatischen Bereich und im Sozialverhalten.

Wer übt Gewalt aus?

Nach der Gewaltdefi nition der Weltgesundheitsorganisation werden drei Kategorien unterschieden, von wem Gewalt ausgeht: Gewalt gegen die eigene Person (suizidales Verhalten und Selbstmisshandlung), Gewalt von einer Person oder Gruppierung gegen eine andere Person (zwischenmenschliche Gewalt) und Gewalt durch größere Gruppierungen (kollektive Gewalt). Die zwischenmenschliche Gewalt gliedert sich in zwei Untergruppen: Gewalt in der Familie und Gewalt, die von Mitgliedern einer Gemeinschaft ausgeht.

Gewaltprävention

Prävention ist an die Stelle von Restriktion und Repression getreten. Prävention bezeichnet vorbeugende Maßnahmen, die ein unerwünschtes Ereignis oder eine unerwünschte Entwicklung vermeiden sollen. Je früher die Prävention greift, desto höher sind die Erfolgsaussichten. Nach der ergebnisorientierten Definition kann als Gewaltprävention alles verstanden werden, was Gewalt reduziert. Gewaltprävention fußt nach Günther Gugel, dem ehemaligen Geschäftsführer des Instituts für Friedenspädagogik, auf der Überzeugung, den Erfahrungen und Erkenntnissen, dass es Handlungsmöglichkeiten gegen Gewalt gibt, die der Anwendung von Gewalt vorbeugen. Sie basiert auf der Annahme, dass, wenn nichts unternommen wird, eine negative Entwicklung einsetzen könnte. Gewaltprävention umfasst fünf zentrale Bereiche: Verbesserung der sozialen Qualität der Einrichtung, Etablierung und Verdeutlichung von Regeln und Normen des Zusammenlebens, Handeln in akuten Gewaltsituationen, Umgang mit Konflikten, Aufbau eines in der Einrichtung etablierten Konfliktmanagementsystems.

Kinder haben Rechte

Gugel fordert, Kinder als eigenständige, vollwertige Menschen wahrzunehmen, denen eigene, unveräußerliche Rechte zukommen und denen eigene Meinungen, Interessensbekundungen und Mitbestimmungsmöglichkeiten zustehen. In Deutschland haben Kinder seit November 2000 nach § 1631 Absatz 2 BGB ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Dieses Recht ist ebenso in Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention verankert (Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung): „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen […]. Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen […] ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Seit 2014 ist es Kindern möglich, sich an den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) in Genf zu wenden, um ihre Rechte durchzusetzen. Nach Artikel 7 der Europäischen Sozialcharta haben Kinder und Jugendliche das Recht auf besonderen Schutz gegen körperliche und sittliche Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Auch ohne diese Grund lagen sollten gewaltfreie Erziehung und gewaltfreies Aufwachsen für Kinder zum Selbstverständnis einer Gesellschaft gehören.

Die Gestaltung des Sozialklimas

Zwischen der Wertekultur einer Einrichtung und tatsächlicher Gewaltanwendung in eben dieser Einrichtung besteht ein Zusammenhang. Grundsätzlich gibt es viele Spannungsfelder, die durch pädagogische Fachkräfte bewältigt werden müssen. Andererseits ist in den Ausbildungen der Umgang mit Gewalt und die Thematik Gewaltprävention oft nicht oder nur rudimentär vorgesehen. Bei der Bewältigung dieser Spannungsfelder besteht die Gefahr, dass Kinder in ihrer Entfaltung eingeengt und Grenzen überschritten werden. Werte- und Präventionskultur bedeuten die Schaffung stabiler Verhältnisse, damit sich Konflikte, Spannungen, Aggressionen erst gar nicht entwickeln oder zumindest aufgefangen werden können. Bewährt hat sich die Festlegung eines Verhaltenskodex in Form von verbindlichen Verhaltensregeln, der gemeinsam mit allen Beteiligten erarbeitet wird, um eine hohe Akzeptanz zu erreichen. Weshalb ist die Etablierung von Regeln und das Setzen von Grenzen so wichtig? Regeln zu akzeptieren bedeutet für Kinder mehr Sicherheit, Schutz, Halt, Orientierung und soziales Miteinander. Kinder brauchen Freiheit und Freiraum, um sich entwickeln zu können, jedoch auch Beständigkeit und Orientierung.  Dies kann durch setzen klarer Grenzen und verbindliche, sinngebende Regeln erreicht werden.

„Mein Körper gehört mir!“

Auf der anderen Seite dürfen von Erwachsenen keine Grenzverletzungen ausgehen. Mit Kindern zu üben, klare Grenzen zu ziehen, Nein sagen zu lernen und das Körperbewusstsein zu fördern, kann Missbrauch vorbeugen. „Mein Körper gehört mir!“: Kinder haben ein Recht darauf, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Ein Großteil an Übergriffen bei Kindern geschieht im sozialen Nahbereich. Dabei wird das Kind häufig durch Drohungen oder subtile Einschüchterungen zum Schweigen gebracht.

Da es vom Täter oder von der Täterin emotional abhängig ist, traut es sich nicht, die Beziehung zu gefährden. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder lernen, Nein zu sagen und klare Grenzen  zu ziehen Nein sagen stärkt das Selbstbewusstsein, hilft in der Entwicklung des eigenen Willens und der Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und ist Voraussetzung für ein autonomes Leben.

Ein Einsetzen von Gewaltprävention in früher Kindheit ist wünschenswert, da uns die frühe Kindheit prägt. Es ist demnach von hoher Bedeutung, Kinder von Anfang an in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Zur Wertekultur einer Einrichtung gehört die Möglichkeit der individuellen Entfaltung der Kinder und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung ebenso wie die Entwicklung sozialer Kompetenzen.

Dazu gehört auch, dass keine Etikettierung und Stigmatisierung stattfindet. Dass diese vielmehr durch die pädagogischen Fachkräfte unterbrochen werden, um eine gesunde Entwicklung des Kindes zu ermöglichen.  Die Aufgabe einer Einrichtung ist es, Kinder vor Gewalt in all ihren Facetten zu schützen. Eine Werte- und Präventionskultur sollte geprägt sein von gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung. Je demokratischer der Führungsstil einer Einrichtung ist, desto besser kann Gewaltprävention wirksam sein.

Gewaltprävention im Vorschulbereich darf nicht heißen, ein engmaschiges Netz der Überwachung und Eingrenzung zu spannen, das sich über den weiteren Entwicklungsweg von Kindern legt, sondern soll Kindern auf ihrem Weg ins Leben unterstützen und begleiten. Aggression und Gewalt werden auch in Einrichtungen des Vorschulbereichs nicht nur von außen hineingetragen, sondern sind in vielen Fällen hausgemacht.

Eine Werte- und Präventionskultur kann nur durch konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, indem die notwendigen Strukturen in der Einrichtung geschaffen werden. Dazu gehören Streitschlichter-Programme, Anti-Mobbing-Programme, Selbstbehauptungsprogramme, Sozialkompetenzprogramme, Förderung sozialer Kontakte, Konfliktlösungs- und Peer-Mediationsprogramme, Förderung der Resilienz, Aufstellung klarer Verhaltensregeln, gewaltfreie Kommunikation und eine ansprechende architektonische Gestaltung der Einrichtung. Wesentliche Schutzfaktoren sind: die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls, ein hohes Selbstbewusstsein, Unterscheidung von Selbst- und Fremdwahrnehmung, soziale Kompetenzen, Überzeugungskraft, die Fähigkeit Konflikte zu lösen, die Unterscheidung von guten und schlechten Gefühlen einerseits und konstante und verlässliche Beziehungen zu Bezugspersonen andererseits.

Zu einem ganzheitlichen Ansatz gehören auch Maßnahmen zur Förderung der Freude an der Bewegung und die Unterstützung auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung als Vorbeugung von Bewegungsmangel und Übergewicht. Aufgrund der Vielseitigkeit und Komplexität verschiedener Bereiche und Ansätze von Gewaltprävention können Netzwerke mit anderen Einrichtungen und Kooperationen mit externen Partnern sinnvoll sein. Ein weiterer wichtiger Aspekt, damit Gewaltprävention in Einrichtungen gelingen kann, ist die Einbindung und Mitverantwortung der Eltern.

Bereiche und Ebenen der Gewaltprävention

Ansätze, Maßnahmen und Programme der Gewaltprävention sind nicht immer exakt zuzuordnen, sondern umfassen häufig verschiedene Ebenen. Wird Prävention unter systematischem Blickwinkel betrachtet, so lassen sich zunächst zwei grundsätzliche Klassifikationen unterscheiden:

Verhalten- und Verhältnisprävention

Die Verhaltensprävention ist personenorientiert und bezieht sich unmittelbar auf den einzelnen Menschen. Sie zielt auf die Beeinflussung des Verhaltens von Individuen und Gruppen, beispielsweise durch Weiterbildungsprogramme, Lebenskompetenzförderung und Persönlichkeitsstärkung. Die Verhältnisprävention als umgebungsorientierte Prävention berücksichtigt die Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen und zielt auf die Gestaltung gewaltmindernder gesellschaftlicher Strukturen und Rahmenbedingungen mit einem Klima der Akzeptanz. Dazu zählen auch gesetzliche Maßnahmen und Möglichkeiten der Beteiligung. Damit Verhaltensprävention wirken kann, ist es sinnvoll diese mit den Maßnahmen und Programmen der Verhältnisprävention zu ergänzen.

Prävention sollte nicht nur die Verhaltensdimension des Kindes umfassen, sondern auch dessen Lebensverhältnisse und Umstände, die sein Verhalten bedingen. Gerald Caplan unterscheidet drei Ebenen der Prävention. Seine Einteilung berücksichtigt,  an welcher Stelle das entsprechende Programm in der Kette der Risikofaktoren von „lange bevor Gewalt auftritt“ bis zu „lange nachdem Gewalt aufgetreten ist“ angesiedelt ist.

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