16.03.2023
Heike Baum

In oder out– Wie wir bewerten, wer dazugehört – und wer nicht

Ein gelingendes und glückliches Leben assoziieren wir mit einem weißen, gut bezahlten Mann. Dies tun übrigens auch schon Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Ups!? Wir sollten dringend unsere Wahrnehmungsmuster reflektieren und darüber nachdenken, wie wir diese an die Kinder weitergeben!

BEISPIEL: KARSTEN

Karsten, so erzählen die Fachkräfte in der Supervision, ist behindert. Er hat eine verkrüppelte rechte Hand und kann damit kaum etwas greifen. Dafür ist seine linke Hand umso geschickter und für seine vier Jahre spricht er sehr gut. Zwischen den Zeilen ist deutlich zu hören, dass ihn die Fachkräfte bedauern und manchmal auch genervt sind, weil er mehr Unterstützung benötigt als andere Kinder. Karsten ist Thema in der Supervision, weil er im Spiel der anderen Kinder immer wieder ausgegrenzt wird. Obwohl er kreative Vorschläge macht, gehen die anderen nicht darauf ein. Manchmal wird er ignoriert, häufi g fallen Sätze wie „Du kannst nicht mitspielen, da braucht man beide Hände.“. Die Fachkräfte wollen ihm helfen, dass er mehr von den anderen Kindern akzeptiert wird. Schnell sind die Fachkräfte in ihrer Situationsanalyse bei den Eltern. Sie grenzen scheinbar schon immer aktiv Familien und ihre Kinder aus. Es wird die Vermutung geäußert, dass die Eltern ihren Kindern verbieten, mit Karsten zu spielen.

Blick der Supervisorin

Sicher ist es sinnvoll, den Eltern-Aspekt auch einmal genauer zu betrachten. Für den Anfang analysiere ich aber die Situation der Kinder als Spiegelphänomen der Fachkräfte. Mir fällt auf, dass es den Fachkräften schwerfällt, individuell und bedürfnisorientiert mit den Kindern umzugehen. Sie sagen: Karsten ist behindert. Mit dieser Aussage signalisieren sie, dass die Behinderung das deutlichste und vielleicht auch wichtigste Merkmal von Karsten ist.

Vielleicht könnten wir sogar sagen: Sie reduzieren Karsten auf die Dysmelie (Fehlbildung) seiner Hand. Anschließend erfahren wir noch, dass er sich sprachlich gut entwickelt, was die Fachkräfte vielleicht als guten Ausgleich für seine Einschränkung betrachten. Auch seine Kreativität könnten ihm, aus dem Blick der Fachkräfte, später von Nutzen sein. Dann stellen sie noch fest, dass er Hilfe braucht, um besser im Kontakt mit den anderen Kindern zu sein. Wir könnten also sagen: Karsten ist behindert, hilflos und allein, er kommt ohne Unterstützung nicht zurecht.

Anstatt die Aufmerksamkeit auf die Behinderung und den damit verbundenen Mangel zu lenken, könnte Karsten aber auch als Kind in den Blick genommen werden: Wie er neugierig, kreativ, den Menschen zugewandt ist usw. Denn Karsten ist in erster Linie ein Kind und wie bei allen Kindern gibt es einzelne Situationen, in denen er Unterstützung braucht. In seinem Fall würde das bedeuten, dass alles in seinem Alltag so gestaltet ist, dass er es wie andere Kinder auch selbstständig gestalten kann. Also braucht er eine Jacke, Hose und Schuhe, die er einhändig schließen kann, Besteck, das er mit dem Mund fixiert, wenn er sich das Fleisch schneidet, einen Teller, in der er das Brot bestreichen kann, ohne dass es wegrutscht und vieles mehr. Es ist die Aufgabe der Fachkräfte dafür zu sorgen, dass sich die Einrichtung mit allem an das Kind anpasst, wenn es seine eigene Anpassungsfähigkeit ausgeschöpft hat – egal ob es körperlich, seelisch, emotional oder auch wegen einer geistigen Einschränkung selbst nicht in der Lage dazu ist.

Am allerwichtigsten für Karsten und alle Kinder ist das Gefühl, dazuzugehören. Da haben die Fachkräfte in dieser Kita noch einiges an Eigenarbeit zu leisten, damit sie selbst und anschließend die Kinder untereinander off en und wertschätzend das gemeinsame WIR leben können.

Heike Baum, Erzieherin und Spielpädagogin, Fortbildnerin für pädagogische Fachkräfte, Supervisorin und Coach (DGSv), Autorin zahlreicher pädagogischer Fachbücher; www.heike-baum.de

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