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Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich das Lernbedürfnis von Lina stillen soll, so viel möchte sie immer wissen“, erzählt eine Erzieherin. Wissbegierige Kinder mit einer hohen kognitiven Begabung können pädagogische Fachkräfte in Kitas herausfordern. Kinder wollen ihre Begabung ausleben, sie wollen ihrem Lernbedürfnis nachgehen und verlangen neuen Input. Werden sie jedoch von Fachkräften ausgebremst oder das Angebot befriedigt ihren Wissensdurst nicht, langweiligen sich Kinder in der Kita. Das trifft besonders häufig auf Kinder mit hoher kognitiver Begabung zu.
Lina ist ein Mädchen, das sich sehr gut mit Tieren auskennt und schon lesen und schreiben kann. Da es in ihrer Kita zu wenig Bücher gibt, die sie interessieren, hören die pädagogischen Fachkräfte von ihr oft Sätze wie „Das ist mir aber zu langweilig“ oder „Das kenn ich schon alles“. Die pädagogischen Fachkräfte fragen sich daher, ob Lina eher eingeschult werden könnte. Allerdings bemerken sie auch, dass Lina wenig Kontakt zu anderen Kindern hat. Eine vorzeitige Einschulung kann für Kinder mit hohen kognitiven Begabungen eine individuelle Fördermöglichkeit sein. In manchen Fällen ist die vorzeitige Einschulung das Richtige, aber sie ist keine leichte Entscheidung. Deshalb sollte man prüfen, ob die Fördermöglichkeiten für das Kind in der Kita wirklich ausgeschöpft sind, bevor man über eine vorzeitige Einschulung vorschnell entscheidet. Denn Kitas sind Lernorte und haben dadurch die Möglichkeit, Kinder in ihrem Lernbedürfnis optimal begleiten.
Die Professorin für Erziehungswissenschaften Claudia Solzbacher betont, dass die individuelle Förderung keine Methode ist. In der Praxis sind damit zunächst alle Tätigkeiten und das professionelle Handeln pädagogischer Fachkräfte gemeint, die zum Ziel haben, jedes einzelne Kind in seinem Lernverhalten zu begleiten. Individuell meint dabei vor allem, die unterschiedlichen und vielfältigen Bedürfnisse und die Erfahrungen von Kindern zu berücksichtigen und die Lernumwelt des Kindes gemeinsam mit ihm so zu gestalten, dass es seine Potenziale bestmöglich entfalten kann. Gerade in der Frühpädagogik bedeutet das konkret, wie genau pädagogische Fachkräfte ihre pädagogische Arbeit an den jeweiligen Interessen und Stärken orientieren und mit Methoden oder Lernsettings auf die Unterschiedlichkeit reagieren, denn jedes Kind hat andere Begabungen und Lernbedürfnisse.
Das ist in der Praxis oft herausfordernd. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der pädagogischen Haltung. Es handelt sich hier um Begriffe, die viele Personen unterschiedlich definieren. Wir beschreiben es allgemein so: Die pädagogische Haltung einer Fachkraft drückt oft aus, welches Bild sie von Kindern und von Kindheit im Allgemeinen hat. Sieht sie Kinder eher als kompetent oder hilfsbedürftig? Ist die frühe Kindheit für sie eine wichtige und prägende Phase oder beginnt die Bildung eines Kindes in den Augen der Fachkraft erst mit dem Eintritt in die Schule? Das hat auch mit persönlichen Einstellungen zu tun, die man in der Praxis reflektieren muss. Diese Haltung kann wiederum Auswirkungen auf die Interaktion mit Kindern haben, das heißt, wie die Fachkräfte mit ihnen kommunizieren oder auch wie sie die Kinder fördern.
Aus der Haltung und den Einstellungen leitet sich das pädagogische Handeln ab, was die Selbst- und Fremdreflexion so wichtig macht. Das gilt ebenso in der individuellen Begabungsförderung. Eine pädagogische Fachkraft sagt etwa zu einem Kind, das sich selbst Lesen beibringen möchte: „In der Kita wird lieber gespielt – das lernst du alles noch in der Schule.“ Interpretieren wir diese Szene, erkennen wir, dass die pädagogische Fachkraft es zwar gut meint und das Spielen positiv und vermeintlich kindgerecht bewertet. Das Kind aber fühlt sich möglicherweise ausgebremst und frustriert, weil es seinen Interessen nicht nachgehen kann. Hier ist es wichtig, dass Fachkräfte die eigenen Vorstellungen von Begabungen reflektieren, um Kinder individuell zu fördern, damit sie ihre Begabungen entfalten können. Schaffen es die Fachkräfte einer Kita, individuelle Interessen, Stärken und Lernbegeisterung von Kindern nicht zu bremsen, ist das wichtigste Kriterium für die individuelle Förderung von Kindern erfüllt.
So berichtet Linas Erzieherin: „Wir beobachten die Kinder in unserer Kita ressourcenorientiert und überlegen uns anhand unserer Beobachtungsergebnisse ein individuelles Förderangebot. Das kann ganz unterschiedlich aussehen und holt jedes Kind in seinen Stärken dort ab, wo es gerade steht.“ Die individuelle Förderung entsteht nicht ohne Kontext, es braucht immer einen Beobachtungs- und Dokumentationsprozess, der bei den Interessen der Kinder ansetzt. Erst danach lässt sich bewerten, welche Methoden der individuellen Förderung möglicherweise sinnvoll sind.
Einige ressourcenorientierte Beobachtungs-und Dokumentationsverfahren, wie die Portfolioarbeit oder Bildungs- und Lerngeschichten, helfen pädagogischen Fachkräften bei der individuellen Förderung eines Kindes. Im gemeinsamen Austausch mit dem Kind über seine Themen, Interessen und Entwicklungsziele können die Fachkräfte reflektieren, wie sie die Potenziale der Kinder bestmöglich unterstützen können. Lina berichtet ihrer Erzieherin im Austausch über ihre Portfolioseite vom letzten Ausflug ins Museum: „Dort habe ich gesehen, wie an der Höhlenwand Sachen gemalt waren. Die Frau hat erzählt, andere Leute könnten das lesen, wenn jemand da was gemalt hat. Aber da waren gar keine Buchstaben.“ Linas Interesse für das Lesen spiegelt sich in der dialogischen Reflexion ihres Museumbesuchs wider, indem sie über die Höhlenmalereien aus der Vorzeit spricht. Ihre Erzieherin greift dieses Interesse unmittelbar auf: „Wie glaubst du denn, könntest du herausfinden, wie man diese Malereien lesen kann?“ Im weiteren gemeinsamen Dialog könnten die beiden darüber ins Gespräch kommen, wie Lina Antworten auf ihre Frage bekommt, und dadurch ihr Wissen über das Lesen und Schreiben um neue Perspektiven erweitern.
Das Ziel sollte sein, dass alle Kinder gleichermaßen gefördert werden – egal aus welcher Lebenssituation sie kommen. Viele pädagogische Maßnahmen, die in Kitas zum Teil fest verankert sind, bieten sich sehr gut zur individuellen Förderung von Kindern mit hohen kognitiven Begabungen an. Bei allen Möglichkeiten, den Wissensdurst von Kindern zu stillen, sollte man die Partizipation des Kindes berücksichtigen. Also das Kind an seiner eigenen Lernentwicklung zu beteiligen und es direkt zu fragen: „Was interessiert dich?“, „Wie glaubst du, kannst du selbst eine Antwort auf deine Frage finden?“ oder „Wie möchtest du dabei unterstützt werden?“ Wie wir wissen, interessiert sich Lina für die Tierwelt und kann bereits lesen. Sie tritt jedoch weniger mit anderen Kindern in Kontakt. Um ihren unmittelbaren Lebenskontext einzubeziehen, könnten sich folgende Angebote gut zur partizipativen Förderung ihrer Interessen und Kompetenzen anbieten:
In der Projektarbeit können Fachkräfte individuelle Interessen und Kompetenzen gut fördern. Bei Linas Stärken würde sich ein Tierprojekt mit ihr und einer auch interessierten Kindergruppe eignen. Ihre Lesekompetenz kann das Projekt bereichern. Wichtig ist, dass Lina und die anderen Kinder den Projekt-Prozess selbstständig planen, die Fachkräfte sollten lediglich unterstützen und anleiten.
Komplexe, herausfordernde philosophische Fragen von Kindern mit hoher kognitiver Begabung können Gespräche anregen. Wenn Lina Fragen wie „Kommen Tiere nach ihrem Tod in den Tierhimmel?“ mit Kindern diskutiert, bereichern sich alle Beteiligten gegenseitig und Lina kann ihr bereits erworbenes Wissen einbringen. Zudem kommt sie in Kontakt mit anderen Kindern, die sich für die gleiche Fragestellung interessieren.
Gerade für Kinder, bei denen man über eine vorzeitige Einschulung nachdenkt, kann sich ein früher Besuch der Vorschulgruppe anbieten – ebenso für Kinder, die aufgrund einer hohen kognitiven Begabung besondere Herausforderungen in der Kita benötigen. Wenn Kinder wie Lina Interesse am Lesen, Schreiben oder Rechnen haben, finden sie in der Vorschulgruppe häufig Angebote, die ihre Interessen fördern. Das Gruppengefüge kann es kontaktscheuen Kindern erleichtern, Freunde zu finden, die auf einem ähnlichen Entwicklungsstand sind und ähnliche Interessen haben, sogenannte Peers.
Beim Frühen-Service-Learning bieten Kinder freiwillig Lernangebote für andere Kinder an. Das Kind plant unter Anleitung einer pädagogischen Fachkraft die thematische und strukturelle Ausgestaltung. Selbstbestimmt und partizipativ kann Lina in einem Angebot ihr bereits erworbenes Wissen über die Tierwelt weitergeben. Pädagogische Fachkräfte begleiten die Kinder im gesamten Prozess und bieten ihnen damit Sicherheit und wenn nötig Hilfestellungen.
Es ist einfacher als gedacht: Nehmen Fachkräfte die Interessen und Perspektiven von Kindern ernst, erhöht das die Chancen, dass sie sich wohlfühlen. Im Gespräch mit Kindern erfahren die Fachkräfte, was Kindern wichtig ist, was sie tun möchten – und das reduziert Langeweile. Es ist wichtig, Kinder zu wertschätzen, das gilt auch für vielfältige Begabungen, die ein Teil von Diversität sind. Berücksichtigt man das, sind die Grundsteine einer individuellen Förderung in der Kita gelegt.
Zur Förderung von Kindern mit hohen kognitiven Begabungen braucht es im Kita-Alltag keine speziellen Angebote. Fachkräfte sollten eher darauf schauen, inwieweit sie bereits Stärken und Interessen von Kindern aufgreifen und in welcher Form sie diese fördern können. Die oben genannten pädagogischen Maßnahmen eignen sich, um alle Kinder zu fördern und ihre unterschiedlichen Entwicklungsstände zu berücksichtigen. Jedes Kind wird dort abgeholt, wo es steht, und erfährt durch Interaktion mit Peers und durch Anleitung von pädagogischen Fachkräften eine Möglichkeit, seine Begabung zu entfalten. Wenn sich jedes Kind individuell einbringen kann, können alle Kinder davon profitieren und sich in ihren Kompetenzen weiterentwickeln. In dieser Form wird Begabungs- und Begabtenförderung ein Teil von Diversität, in dem sie Vielfalt abbildet und einen Beitrag inklusiver Arbeit in Kindertageseinrichtungen leistet.
LITERATUR
SOLZBACHER, CLAUDIA; BEHRENSEN, BIRGIT (2012): Individuelle Förderung in Kita und Grundschule. Nifbe Themenheft 5. Osnabrück: Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung.
KOOP, CHRISTINE; SEDDIG, NADINE (2020): Fragen und Antworten zu hoher kognitiver Begabung im Kita-Alter. Karg Sonderheft. Beiträge zur Begabtenförderung und Begabungsforschung. Frankfurt am Main: Karg-Stiftung.
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