Alles in der Schwebe – Eine Erzieherin über die Corona-Zeit
Stille – etwas, das selten vorkommt in Kindertagesstätten und auch nicht so richtig dorthin gehört. Seit mehreren Wochen bleiben die meisten Kinder nun schon daheim. Eine Erzieherin erzählt unserer TPS-Redakteurin Lisa Martin, wie sie die Corona-Zeit wahrnimmt und wie es ist, wenn man plötzlich getrennt von den Kindern ist.Text: Lisa Martin, TPS-Redaktion
Bild: © Justin Case/GettyImages
„Normalerweise kümmert sich unser Team um neunzig Kinder. Momentan sind es nur noch zwei. Eines in der Krippe und eines im Kindergarten. Seit unser Kinderhaus Mitte März geschlossen hat, teilen wir uns die Schichten auf. Zwei Erzieherinnen müssen vor Ort sein, zwei weitere sind als Ersatz eingeteilt. Alle anderen müssen auf Abruf jederzeit einsetzbar sein.
Zeit, um den Kindern zu erklären, was gerade passiert, hatten wir leider nicht. Wir bekamen Freitagvormittag Bescheid, dass die Kitas am Montag schließen würden. Ab dem Zeitpunkt mussten wir ziemlich viel organisieren, um die Eltern ausreichend informieren zu können.
Es ist auch schwer, den Kindern zu erklären, was gerade passiert. Vor allem, weil wir selbst nicht genau wissen, wie es weitergeht. Als Erzieherinnen stehen wir selbst in der Schwebe. Für die meisten Kinder war der Freitag deswegen ein ganz normaler Tag. Ebenso wie die Tage zuvor. Lediglich drei Kinder waren wegen des Virus schon im Vorfeld Zuhause geblieben.
Unserem Team und mir ist es wichtig, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben. Wir wollen weiterhin ein Teil im Leben unserer Kinder sein und ihnen das Gefühl geben, dass wir da sind. Wie wichtig es ist, die Verbindung zu den Kindern aufrechtzuerhalten, hat mir folgende Situation gezeigt: Vor ein paar Tagen bekamen wir die Rückmeldung einer Mutter, dass sich ihr zweijähriges Kind vom Kindergarten ‚entfremde‘. Sie merke das daran, dass das Kind die Namen der Erzieherinnen Zuhause nicht mehr nenne, was das Kind davor immer gemacht habe.
Die Erzieherinnen schreiben gegen die Distanz an
Um so etwas zu verhindern, haben wir als Team kurz nach der Schließung ein Video von uns aufgenommen und an die Kinder verschickt. Darauf war auch unsere Einrichtung zu sehen. Die Schreiner waren seit der Schließung da und es hat sich einiges verändert. Ich habe die Kinder daraufhin sozusagen herumgeführt und ihnen gezeigt, was sich verändert hat.
Wir haben außerdem beschlossen, dass jeder Erzieher einen Brief an seine Bezugskinder versenden soll. So zeigen wir den Kindern, dass wir an sie denken. Ansonsten läuft die Kommunikation mit den Eltern und den Kindern über eine App, die wir seit einiger Zeit und unabhängig von der Corona-Krise nutzen.
Wenn ich nicht in der Notbetreuung eingeteilt bin, arbeite ich einige Dinge im Homeoffice ab. Ich überlege mir beispielsweise, was ich in den Elterngesprächen, die demnächst anstehen, thematisieren möchte. Ansonsten ist es schwer, etwas für die Kinder vorzubereiten. Wir arbeiten in unserem Kinderhaus kindorientiert. Die Kinder entscheiden, was sie interessiert und mit welchem Thema wir uns in der Kita beschäftigen.
Was mich sehr beschäftigt, sind unsere Sorgenkinder. Für mich sind das Kinder, die unter Verwahrlosung in ihren Familien leiden und in denen auch Gewalt, auf welche Art auch immer, stattfinden könnte. In diesen Familien überwiegt nicht die Liebe, sondern das, was an dem Kind stört. Wenn diese Kinder täglich in den Kindergarten kommen, haben wir eine gewisse Kontrolle. Diese fehlt momentan einfach komplett. Mit diesen Kindern regelmäßig Kontakt zu pflegen ist schwer, weil die Eltern sich meistens dagegen verwehren. Je nachdem wie lange die Schließungen anhalten, wird man schauen müssen, wie man in diesen Familien dennoch weiter helfen kann.
Das sind aber nur die extremen Fälle. Es gibt auch noch viele andere Kinder, die die Strukturen des Kindergartens brauchen. Zuhause haben sie diese nicht, weil die Eltern nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen. Ich weiß, dass die Kinder in diesen Familien praktisch ihrem Schicksal überlassen werden. Statt etwas mit ihnen zu unternehmen oder beispielsweise mal einen Kuchen gemeinsam zu backen, dürfen die Kinder den ganzen Tag machen, was sie wollen. Auf YouTube habe ich zum Beispiel in den vergangenen Tagen gesehen, wie eines unserer Kinder gemeinsam mit seinem 12-jährigen Bruder Fortnite gespielt hat.“
Die befragte Erzieherin möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.
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