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Die sog. vier Ur-Spielmaterialien Erde, Wasser, Stöcke und Steine sind zusammen mit Feuer Grundlagen der menschlichen Kultur. Seit Anbeginn gebrauchen Menschen sie für Nahrungsherstellung, Jagen, Ackerbau, Viehzucht, Wohnungen, Heilung, Feste und Rituale. Kinder überall in der Welt und zu allen Zeiten spielen damit. Sie sind so ins Menschheitsgedächtnis eingegraben, dass sie als tief vertrautes Material auch therapeutisch wirken.
Ein wesentliches Merkmal des Spielens in freier Natur ist die äußere Einfachheit verbunden mit einem inneren Reichtum. Denn Natur-Spielmaterial hat besondere pädagogische Qualitäten:
Die Vielfalt der mikrobiologischen Reize stärkt das Immunsystem. Außerdem haben die sogenannten Phytonzide, Duftstoffe der Bäume zur Abwehr von Schädlingen, eine positive Wirkung auf unser Immunsystem. Sie stärken die sogenannten Killerzellen, die Krankheitserreger bekämpfen und auf Zellveränderungen reagieren, etwa beim Entstehen von Krebs.
Frische Luft unterstützt die Atemorgane und ihre Schleimhäute. Die Blattkrone der Waldbäume filtert die Luft. Sie wird dadurch schadstoffarm, gut angefeuchtet, reich an Sauerstoff und von Staub und Ruß gereinigt. So staubarm wie im Wald ist es sonst nur im Gebirge oder am Meer.
Die hautnah und regelmäßig erlebten Temperaturschwankungen trainieren die Gefäße und regen Kreislauf, Stoffwechsel und Entschlackung an.
Die UV-Strahlung unter blauem Himmel fördert die Bildung von Vitamin D. Das Tageslicht unterstützt außerdem die Bildung des „Glückshormons“ Serotonin für Antriebssteigerung und Stimmungsaufhellung. Und es mindert Kurzsichtigkeit. Natürliches Licht ist ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung des Auges. Das Risiko einer Kurzsichtigkeit kann um ein Drittel gesenkt werden, wenn Kinder täglich mehr als zwei Stunden im Freien sind.
Eine natürliche Umgebung dient der Stressbewältigung. Neben dem beruhigenden Grün vermindern die von Bäumen freigesetzten Phytonzide (ätherische Öle u. a.) die Produktion von Stresshormonen. Aggressionen werden gemindert, wir reagieren gelassener. Die meisten Naturorte vermitteln Geborgenheit und entschleunigen.
In der Natur finden wir die Rhythmen, die seit Jahrtausenden zu unseren Lebensbedingungen gehören. Jahreszeitenwandel, Wachsen und Vergehen, Tag-Nacht-Rhythmus, Mondphasen u. a. verbinden uns mit allem Lebendigen. Naturrhythmus bedeutet verlässlich wiederkehrende Strukturen mit gleichzeitig lebendig vielfältigen Varianten.
Eigene körperliche Rhythmen werden durch das Erleben der Naturrhythmen ausgeglichener – so die Forschungen der Chronobiologie. Das betrifft Puls, Atmung, Stoffwechsel, Hormonspiegel, Zellerneuerung, Wechsel von Aktivität und Ruhe.
Sinneswahrnehmungen einschließlich Gleichgewichtssinn sind Erfahrungen, die jedem Weltverständnis zugrunde liegen. Mit den Sinnen ergreift das Kind die Welt im lebendigen Original, um sie dann immer mehr verstandesmäßig zu begreifen.
In der Natur sind die Sinne wacher und genauer. Eine differenzierte Wahrnehmung von Gerüchen, Geräuschen, Formen, Farben, Geschmäckern, Bodenunebenheiten usw. entwickelt sich. Das führt zu einer genaueren Wahrnehmung von sich selbst und zugleich zu einem offenen Weltbild, das Vielfalt erkennt und zulässt.
Das Spielen in der Natur erhöht die Motivation, sich zu bewegen, und stärkt damit Aktivität, Körperkontrolle und Geschicklichkeit. Durch die gewonnene Sicherheit der Bewegung sinkt das Unfallrisiko. Kinder, die unebene Böden, Hindernisse und vielfältige Tasterfahrungen mit den Füßen erleben, trainieren Gleichgewicht und Koordination von Muskeln und Sinnen. Und sie lernen zu fallen. Das permanente Training verbessert Körperspannung und Haltung.
Die Bewegungssicherheit und die Erfahrungen mit eigenen Körpergrenzen und -kompetenzen stärken die Selbstkenntnis und das Selbstvertrauen.
Natürliche Erkundungsfelder haben einen hohen Aufforderungscharakter. Sie bieten abwechslungsreiche Handlungsmöglichkeiten mit unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden. Das stärkt die Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit. Häufige Erfahrungen von Selbstwirksamkeit erhöhen das Verantwortungsgefühl für das eigene Tun. Und sie stärken auch die soziale Verantwortlichkeit.
Die Konsequenzen der eigenen Handlungen werden direkt erfahrbar: Ohne Bewegung friert man im Winter, tiefes Wasser läuft in die Stiefel, ein rutschiger Hang braucht besondere Vorsicht, Ameisen krabbeln in weite Ärmel usw.
In der Auseinandersetzung mit Natur geschieht hochmotivierte Selbstbildung. Die Kinder setzen das Erlebte spielerisch und kreativ um und erweitern ihr Wissen von sich selbst und von der Welt. Die innere Verbundenheit zu den Lerninhalten machen das Lernen nachhaltig und persönlichkeitsbildend. Die Lerninhalte umfassen Biologie, Physik, Mathematik, Ökologie u. v. m.
Im Naturspiel wird das Lernen optimal unterstützt
Bewegung regt den Sauerstoffaustausch im Gehirn an und aktiviert die Lernzentren: Das Gehirnzentrum für Bewegung ist verbunden mit dem Sprach- Gedächtnis; das Sprachzentrum ist mit dem Zentrum für Fingerbewegungen verknüpft. Ausprobieren und Prüfen mit allen Sinnen ist der Beginn des abstrakten Erfassens – vom Greifen zum Begreifen. Außerdem werden durch Bewegen lernfördernde Hormone ausgeschüttet.
Intensive Erlebnisse wirken als tiefe Sprachanlässe. Gebannt schauen Kindern den Tieren zu und lernen, sich differenziert auszudrücken: Die Schnecke kriecht und der Käfer krabbelt, Vögel fliegen und Schmetterlinge flattern. Ebenso die Geräusche: Ein Vogel zwitschert, singt oder pfeift. Es gibt eine riesige Farbenvielfalt in der Natur. Das Sonnenlicht auf dem Wasser leuchtet, schimmert, glitzert.
Die entspannte Atmosphäre in der Natur führt zum genauen Hören und Verstehen. Widerhalleffekte und Geräuschpegel in geschlossenen Räumen dagegen erschweren das Behalten von Lerninhalten im Kurzzeitgedächtnis.
Durch bestimmte Naturerfahrungen schauen wir unseren Alltag neu an. Ernährung aus dem Supermarkt, Wohnen in einem Haus, Trinkwasser aus dem Wasserhahn usw. nehmen Kinder bewusster wahr, wenn sie Wildgemüse sammeln oder im Garten anbauen, wenn sie ein regendichtes Tipi aus Ästen und Laub bauen oder Wasser aus einer Quelle holen. Naturerfahrungen, die eher technikfern, konsumfern und medienarm sind, können so zu einem selbstbestimmten Umgang mit der modernen Gesellschaft führen. Die Lebensweisen anderer Kulturen und Zeiten betrachten die Kinder mit Respekt.
Das direkte Erleben der Elemente, Pflanzen und Tiere lässt die eigene Lebendigkeit spüren. In der Natur finden sich Kinder in ein vorhandenes Sinngefüge ein: Jeder Teil der Natur hat Sinn. Das wirkt als Vorbild für ein eigenes sinnerfülltes und sinnstiftendes Leben. Die Erfahrung des Eingebundenseins in ein größeres Ganzes nährt das Urvertrauen, das Gefühl existentieller Geborgenheit.
Gefühle wie Dankbarkeit, Ehrfurcht und Liebe sind in Naturbegegnungen spontan und authentisch erlebbar.
Die atmosphärische Ruhe vieler Naturorte, die Entschleunigung und ästhetische Qualitäten ermöglichen viele Momente der Versunkenheit und Achtsamkeit.
Folgendes Zitat fasst diese Erkenntnisse zusammen: „Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit, Bezogenheit. Aus diesen Erfahrungen bauen sie das Fundament, das ihr Leben trägt“ (Renz-Polster/Hüther 2013, 9).
Jutta v. Ochsenstein-Nick, Kleinkind- und Naturpädagogin, Elternberaterin, Achtsamkeits-Lehrerin, Autorin.
Kontakt: www.pflege-spiel-beratung.de
Literatur:
Renz-Polster, Herbert / Hüther, Gerald: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Beltz 2013
Späker, Thorsten: Natur – Entwicklung und Gesundheit. Handbuch für Naturerfahrungen in pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern. Hohengehren. Schneider 2017
Wawra, Johannes/Wawra, Ursula: Wawra’s Naturbuch. Entdecken, erleben, staunen und verstehen. Bd. 1: Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien. Natur-Verlag 2018
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