2. Psychische Entspannung
Eine natürliche Umgebung dient der Stressbewältigung. Neben dem beruhigenden Grün vermindern die von Bäumen freigesetzten Phytonzide (ätherische Öle u. a.) die Produktion von Stresshormonen. Aggressionen werden gemindert, wir reagieren gelassener. Die meisten Naturorte vermitteln Geborgenheit und entschleunigen.
3. Rhythmus
In der Natur finden wir die Rhythmen, die seit Jahrtausenden zu unseren Lebensbedingungen gehören. Jahreszeitenwandel, Wachsen und Vergehen, Tag-Nacht-Rhythmus, Mondphasen u. a. verbinden uns mit allem Lebendigen. Naturrhythmus bedeutet verlässlich wiederkehrende Strukturen mit gleichzeitig lebendig vielfältigen Varianten.
Eigene körperliche Rhythmen werden durch das Erleben der Naturrhythmen ausgeglichener – so die Forschungen der Chronobiologie. Das betrifft Puls, Atmung, Stoffwechsel, Hormonspiegel, Zellerneuerung, Wechsel von Aktivität und Ruhe.
4. Sinneswahrnehmung
Sinneswahrnehmungen einschließlich Gleichgewichtssinn sind Erfahrungen, die jedem Weltverständnis zugrunde liegen. Mit den Sinnen ergreift das Kind die Welt im lebendigen Original, um sie dann immer mehr verstandesmäßig zu begreifen.
In der Natur sind die Sinne wacher und genauer. Eine differenzierte Wahrnehmung von Gerüchen, Geräuschen, Formen, Farben, Geschmäckern, Bodenunebenheiten usw. entwickelt sich. Das führt zu einer genaueren Wahrnehmung von sich selbst und zugleich zu einem offenen Weltbild, das Vielfalt erkennt und zulässt.
5. Bewegungsvielfalt
Das Spielen in der Natur erhöht die Motivation, sich zu bewegen, und stärkt damit Aktivität, Körperkontrolle und Geschicklichkeit. Durch die gewonnene Sicherheit der Bewegung sinkt das Unfallrisiko. Kinder, die unebene Böden, Hindernisse und vielfältige Tasterfahrungen mit den Füßen erleben, trainieren Gleichgewicht und Koordination von Muskeln und Sinnen. Und sie lernen zu fallen. Das permanente Training verbessert Körperspannung und Haltung.
Die Bewegungssicherheit und die Erfahrungen mit eigenen Körpergrenzen und -kompetenzen stärken die Selbstkenntnis und das Selbstvertrauen.
6. Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit
Natürliche Erkundungsfelder haben einen hohen Aufforderungscharakter. Sie bieten abwechslungsreiche Handlungsmöglichkeiten mit unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden. Das stärkt die Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit. Häufige Erfahrungen von Selbstwirksamkeit erhöhen das Verantwortungsgefühl für das eigene Tun. Und sie stärken auch die soziale Verantwortlichkeit.
Die Konsequenzen der eigenen Handlungen werden direkt erfahrbar: Ohne Bewegung friert man im Winter, tiefes Wasser läuft in die Stiefel, ein rutschiger Hang braucht besondere Vorsicht, Ameisen krabbeln in weite Ärmel usw.
7. Erforschen und Lernen
In der Auseinandersetzung mit Natur geschieht hochmotivierte Selbstbildung. Die Kinder setzen das Erlebte spielerisch und kreativ um und erweitern ihr Wissen von sich selbst und von der Welt. Die innere Verbundenheit zu den Lerninhalten machen das Lernen nachhaltig und persönlichkeitsbildend. Die Lerninhalte umfassen Biologie, Physik, Mathematik, Ökologie u. v. m.
Im Naturspiel wird das Lernen optimal unterstützt
- durch Eigenaktivität in vielseitigen Bewegungen und Sinneserfahrungen,
- durch eine emotionale Intensität des Erlebens und
- durch eine konzentrierte Atmosphäre.
Bewegung regt den Sauerstoffaustausch im Gehirn an und aktiviert die Lernzentren: Das Gehirnzentrum für Bewegung ist verbunden mit dem Sprach- Gedächtnis; das Sprachzentrum ist mit dem Zentrum für Fingerbewegungen verknüpft. Ausprobieren und Prüfen mit allen Sinnen ist der Beginn des abstrakten Erfassens – vom Greifen zum Begreifen. Außerdem werden durch Bewegen lernfördernde Hormone ausgeschüttet.
Intensive Erlebnisse wirken als tiefe Sprachanlässe. Gebannt schauen Kindern den Tieren zu und lernen, sich differenziert auszudrücken: Die Schnecke kriecht und der Käfer krabbelt, Vögel fliegen und Schmetterlinge flattern. Ebenso die Geräusche: Ein Vogel zwitschert, singt oder pfeift. Es gibt eine riesige Farbenvielfalt in der Natur. Das Sonnenlicht auf dem Wasser leuchtet, schimmert, glitzert.
Die entspannte Atmosphäre in der Natur führt zum genauen Hören und Verstehen. Widerhalleffekte und Geräuschpegel in geschlossenen Räumen dagegen erschweren das Behalten von Lerninhalten im Kurzzeitgedächtnis.
8. Kulturerweiterung
Durch bestimmte Naturerfahrungen schauen wir unseren Alltag neu an. Ernährung aus dem Supermarkt, Wohnen in einem Haus, Trinkwasser aus dem Wasserhahn usw. nehmen Kinder bewusster wahr, wenn sie Wildgemüse sammeln oder im Garten anbauen, wenn sie ein regendichtes Tipi aus Ästen und Laub bauen oder Wasser aus einer Quelle holen. Naturerfahrungen, die eher technikfern, konsumfern und medienarm sind, können so zu einem selbstbestimmten Umgang mit der modernen Gesellschaft führen. Die Lebensweisen anderer Kulturen und Zeiten betrachten die Kinder mit Respekt.
9. Spirituelle Erfahrung
Das direkte Erleben der Elemente, Pflanzen und Tiere lässt die eigene Lebendigkeit spüren. In der Natur finden sich Kinder in ein vorhandenes Sinngefüge ein: Jeder Teil der Natur hat Sinn. Das wirkt als Vorbild für ein eigenes sinnerfülltes und sinnstiftendes Leben. Die Erfahrung des Eingebundenseins in ein größeres Ganzes nährt das Urvertrauen, das Gefühl existentieller Geborgenheit.
Gefühle wie Dankbarkeit, Ehrfurcht und Liebe sind in Naturbegegnungen spontan und authentisch erlebbar.
Die atmosphärische Ruhe vieler Naturorte, die Entschleunigung und ästhetische Qualitäten ermöglichen viele Momente der Versunkenheit und Achtsamkeit.
Folgendes Zitat fasst diese Erkenntnisse zusammen: „Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit, Bezogenheit. Aus diesen Erfahrungen bauen sie das Fundament, das ihr Leben trägt“ (Renz-Polster/Hüther 2013, 9).
Jutta v. Ochsenstein-Nick, Kleinkind- und Naturpädagogin, Elternberaterin, Achtsamkeits-Lehrerin, Autorin.
Kontakt: www.pflege-spiel-beratung.de
Literatur:
Renz-Polster, Herbert / Hüther, Gerald: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Beltz 2013
Späker, Thorsten: Natur – Entwicklung und Gesundheit. Handbuch für Naturerfahrungen in pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern. Hohengehren. Schneider 2017
Wawra, Johannes/Wawra, Ursula: Wawra’s Naturbuch. Entdecken, erleben, staunen und verstehen. Bd. 1: Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien. Natur-Verlag 2018
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