05.10.2022
Tanja Bräsen

Viele kleine Fische schwimmen jetzt zu Tische – Rituale im Alltag als Anker für sich selbst und die Kinder nutzen

Die Autorin hat Kindertagespflegepersonen nach ihren Ritualen gefragt. Es zeigt sich: Rituale spielen im Tageslauf eine wichtige Rolle und helfen Kindern und Erwachsenen, die kleinen Übergänge gut zu bewältigen.

Stimmen aus der Praxis

Rituale schaffen Orientierung und Sicherheit verbunden mit einer spielerischen Leichtigkeit. Es gibt jährliche Rituale wie Geburtstage der Kinder, wöchentliche wie den Besuch auf dem Markt und die im täglichen Miteinander. Nikolausschuhe und Plätzchen, Eierfärben oder etwas Süßes zum Zuckerfest lassen einige Tage besonders werden.

Rituale im Alltag der Kindertagespflege – über dieses Thema habe ich Stimmen aus der Praxis gesucht und mit mehreren Kindertagespflegepersonen gesprochen. Fragt man Kindertagespflegepersonen, was Rituale für sie bedeuten, wird deutlich, dass Rituale eine stützende Funktion im Alltag haben und Orientierung geben – für die Tageskinder und für sie selbst.

„Rituale strukturieren meinen Tagesablauf mit den Tageskindern. Ich setze für meine Tagesstruktur vor allem Lieder ein. Den Tageskindern helfen die Lieder, um sich in meinem Alltag zurechtzufinden und zu wissen, welche Tätigkeit als nächstes ansteht. Rituale beziehen sich auf wiederkehrende Tätigkeiten oder Abläufe – ich muss nicht so viel erklären, weil die Tageskinder mit einem bestimmten Lied die passende Tätigkeit verbinden.“

 „Einmal im Jahr lade ich alle Eltern und Tageskinder zum Kuchenessen ein. Dann verabschieden wir uns von den Kindern, die in die Kita gehen werden. Wir lassen die gemeinsame Zeit Revue passieren, die Eltern erhalten die Mappen der Kinder und es gibt kleine Geschenke. Ich brauche das selbst, um loslassen zu können.“

Für Kinder unter drei Jahren haben die täglich wiederkehrenden Rituale die größte Bedeutung. Insbesondere Übergänge im Alltag von einer Situation zur nächsten sind für sehr junge Kinder eine Herausforderung. Sie benötigen eine achtsame Begleitung, die durch Rituale unterstützt werden kann.

„Ich finde das Lied vor dem Mittagschlaf sehr hilfreich: Es ist schon dunkel im Raum, die Kinder sind in ihrem Schlafsack und liegen schon in ihren Betten. Das Lied hilft den Tageskindern, von dem Spielen und Toben abzuschalten und ruhig zu werden.“

„Vor dem Einschlafen fange ich an, immer weniger und immer leiser zu sprechen. Dadurch entsteht eine Stimmung der Entspannung und Ruhe und manchmal sind die ersten Kinder schon eingeschlafen, während ich das letzte Kind zu Bett lege. Dieses Ritual hat sich mit der Zeit entwickelt und ich bin richtiggehend ein bisschen stolz auf die schöne Atmosphäre.


Rituale und Übergangssituationen im Alltag der Kindertagespflege

Wie gestalte ich

  • den Abschied von den Eltern und das Ankommen des einzelnen Kindes?
  • den Übergang von drinnen nach draußen (Garten, Spaziergang)?
  • den Übergang vom Spiel zum Händewaschen zum Essen?
  • Den Übergang vom Essen zum Zähneputzen zum Schlafen?
  • den Übergang vom Schlafen zum Wieder-Aufwachen? Gibt es jeweils unterstützende, wiederkehrende Handlungen, Gegenstände, Worte?

 

Was Rituale alles leisten

Rituale geben Orientierung und Halt, können darüber hinaus

aber noch mehr. Kindertagespflegepersonen berichten:

  • Rituale nehmen das Tempo aus dem Alltag und schaffen einen Raum, in dem sich alle Kinder gleichzeitig und gleichermaßen gesehen fühlen:
    „Ich habe fünf Tageskinder, aber nur zwei Hände. Wenn wir nach draußen wollen, singe ich „1,2,3, die Kinder kommen herbei“. Alle Kinder wissen dann, was jetzt passiert, und setzen sich auf die kleine Stufe. Wenn meine Älteste, Matilda (2 Jahre), fertig ist, hilft sie den jüngeren Kindern. Niemand ist ungeduldig, weil alle wissen, wie es weitergeht, und ich begleite mein Handeln durch Sprache.“
  • Rituale unterstützen die Selbstständigkeit der Kinder:
    „Auch das Händewaschen leite ich mit einem Lied ein. Jedes Kind hat einen eigenen, andersfarbigen Waschlappen. An der Textstelle ‚auch der kleine Mund‘ waschen die Kinder dann zum Beispiel selbstständig ihren Mund, und ich unterstütze nach Bedarf. Die Kinder lieben es, möglichst viel selbst zu tun, und das Lied leitet sie. Manchmal ist die Stimmung aber auch nicht nach einem Lied, dann summe ich die Melodie nur leise, dafür entwickelt man ein gutes Gespür.“
  • Rituale sind hilfreich in der Eingewöhnung:
    „Für das Tageskind in der Eingewöhnung bin ich eine unbekannte Frau – alles ist fremd. Durch die Rituale, die das Tageskind in der Eingewöhnung beobachtet und miterlebt, werde ich verlässlich, es wird absehbar, was passiert, ich werde vorhersehbar für das Kind. Es kann sich orientieren und sicherer werden. Manchmal ändere ich im Alltag ein Ritual oder lasse es weg, zum Beispiel im Sommer, wenn es heiß ist und wir zügig nach draußen wollen, bevor die Sonne zu sehr scheint. Aber nicht in der Eingewöhnung!

Rituale dürfen nicht zu Regeln werden

Ein wichtiger Aspekt in allen Gesprächen war der besondere Charakter von Ritualen – spielerisch, selbstverständlich und frei. Rituale unterscheiden sich von Regeln. Als Kindertagespflegeperson sind Sie es gewohnt, Ihr eigenes Handeln immer wieder zu reflektieren. Auch Rituale brauchen hin und wieder den Blick aus der Vogelperspektive: Passen meine Rituale noch zu mir und meinen Tageskindern? Ein guter Kompass hierbei ist Ihr Bauchgefühl: Stellt sich ein positives Gefühl ein, wenn Sie an eins Ihrer Rituale denken – oder eher Stress und der Druck, die Kinder disziplinieren zu müssen? Dann könnte es sein, dass ein Ritual zu einer Regel geworden ist. Und das wird mitunter verwechselt beziehungsweise sollte nicht so sein, denn während Regeln rational begründet sind und, so es geht, mit den Kindern entsprechend dem Alter gemeinsam ausgehandelt und festgeschrieben werden, wirken Rituale eher durch ihre Symbolkraft und haben Aufforderungscharakter. Rituale sind wie Anker und Leuchttürme. Sie sollten sich nicht zu Verkehrsschildern verwandeln. Dann wird es unter Umständen Zeit, ein neues Ritual zu finden.


Reflexionshilfe

  • Was bedeuten Rituale für mich in der täglichen Arbeit?
  • Inwieweit helfen und unterstützen die Rituale mich selbst als Kindertagespflegeperson?
  • Gibt es ein Ritual, das besonders hilfreich im Alltag ist?
  • Welches Ritual mag ich selbst besonders?
  • Gibt es ein Ritual, das eher stresst als hilft? Möchte ich es streichen oder durch ein anderes ersetzen?

Manche Rituale pflegt man nur für einzelne Kinder und Kinder bringen eventuell auch eigene Rituale in die Kindertagespflegestelle mit. Das erleichtert ihnen und auch den Kindertagespflegepersonen den Alltag und auch die Kinder lernen so voneinander. Manche Rituale sind wie Wanderbojen, die immer weitergegeben werden und unter Umständen vielleicht kleine Alltagshilfen für Eltern werden.

„Wenn die Tageskinder älter werden und mit Rollenspielen beginnen, finde ich dort sehr oft meine Lieder und Rituale wieder. Ein Beispiel: Wenn die Puppe schlafen geht, wird das bekannte Lied gesungen. Das bedeutet für mich, dass die Tageskinder meine Rituale verinnerlichen und sie für sich als hilfreich annehmen.“

„Manchmal kommt ein Kind im Laufe des Tages zu mir und drückt mir die Rassel in die Hand, damit ich noch einmal seinen Namen singe. Dann weiß ich, dass die Kinder dieses Ritual gernhaben.“

Es hat Freude gemacht, mit Kindertagespflegepersonen über das Thema Rituale zu sprechen. Die Vielfalt und Kreativität in der Umsetzung haben mich beeindruckt. Es bleibt mir an dieser Stelle noch, mich bei allen Kindertagespflegepersonen zu bedanken, die ich interviewen durfte, und Sie alle herzlich einzuladen, Ihre eigenen Rituale zu pflegen, zu reflektieren und lebendig zu halten.


Praxisidee „Bilderbuch der Rituale“

Fotografieren Sie Gegenstände und Utensilien, die für die unterschiedlichen Rituale in Ihrem Alltag stehen: die Küche mit Topf, den Teller mit dem Glöckchen zum Essenslied, den Schlafraum mit Kissen und Schnuller, das Fenster zum Winken, Krippenwagen oder Buggy zum Spazierengehen, den Markt, auf den man einmal in der Woche geht … Erstellen Sie aus diesen Bildern ein kleines Fotoalbum, indem Sie die Fotos laminieren und lochen oder in ein fertiges kleines Album schieben. Sie können dieses Bilderbuch gemeinsam mit den Kindern betrachten oder auch den Eltern mitgeben, die es sich mit den Kindern zu Hause gemeinsam anschauen und darüber sprechen können.


Ihnen hat dieser Artikel "Viele kleine Fische schwimmen jetzt zu Tische – Rituale im Alltag als Anker für sich selbst und die Kinder nutzen" gefallen? Weitere Tipps, Wissenswertes und Ideen finden Sie in unserer Zeitschrift ZeT. Hier bestellen!

Diese Produkte könnten Ihnen auch gefallen:

Bitte warten Sie einen Moment.