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Das Wichtigste vorweg: Burnout ist eine vielschichtige Erkrankung, mit vielen Formen, vielen Facetten. Manchmal stehen überwältigende Lebensereignisse dahinter, manchmal eine offene oder versteckte Depression, manchmal ein aus den Fugen geratenes Leben, manchmal auch einfach Pech: Zu viel Belastungen zur falschen Zeit, vielleicht auch unterstützt durch eine biologische Verletzlichkeit, die zum Teil sogar angeboren sein kann. Burnout entsteht also nicht einfach durch einen Mangel an guter Selbstfürsorge. Vielmehr hat auch diese Krankheit tiefe Wurzeln, die wir selbst oft gar nicht beeinflussen können – Gesundheit spiegelt ja immer auch die Gesundheit unseres Lebensumfelds wider. Auch Selbstfürsorge braucht nun einmal einen fürsorglichen Rahmen.
Und doch folgt die Entstehung von Burnout auch einer biografischen Spur. Die reicht bis in die Kindheit. Das wird verständlich, wenn wir berücksichtigen, dass Lebensereignisse und Belastungen immer nur die eine Seite der Medaille sind. Ihr gegenüber steht die andere Seite: Wie gut wir mit Belastungen umgehen, sie ertragen und verarbeiten können. Ob unser inneres Gefüge durch eine Belastung langfristig geschädigt wird, oder ob es wieder zusammenwachsen kann. Ob wir auf Dauer am Boden bleiben, oder uns wieder berappeln können. Kurz: Wie wir auf Belastungen und widrige Lebensereignisse reagieren, hängt auch mit unserer Widerstandsfähigkeit zusammen – unserer Resilienz. Dem inneren Rückgrat also, das uns erlaubt, auch bei Gegenwind zu funktionieren, uns durch Widerstände nicht entmutigen zu lassen und Wunden, die auf dem Weg entstehen, heilen lässt.
Genau da sind wir mitten im Auge des menschlichen Entwicklungssturms. Denn was ist denn das Ziel der Kindheit? Doch das: Dass Kinder lernen, gut mit den Herausforderungen des Lebens klarzukommen. Belastungen gehören dazu. Dass sie – in diesem Sinne – lernen, gut für sich selbst zu sorgen. Die Entwicklungspsychologie beschreibt die fundamentalen Kompetenzen, die ein Kind braucht, um das zu schaffen:
Alle diese Kompetenzen sind Grundlagen der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung. Sie können auch als Fundamentalkompetenzen der menschlichen Entwicklung betrachtet werden. Sie sind Voraussetzung seiner Selbstständigkeit. Und anders als der Begriff suggeriert, beruht Selbstständigkeit eben nicht nur auf Eigenkompetenz, sondern immer auch auf soziale Fähigkeiten. Diese Fundamentalkompetenzen sind Voraussetzung seelischer Widerstandsfähigkeit – also der bereits angesprochenen Resilienz. Dem inneren Schatz also, der zum Beispiel dafür sorgen kann, dass aus Belastungen kein langfristiges Burnout entsteht.
Wie entstehen diese Grundlagen? Wie bildet sich das Fundament des menschlichen „Entwicklungshauses“? Willkommen bei der wohl spannendsten Frage der Entwicklungspsychologie! Spannend deshalb, weil sie auf ein Dilemma weist. Diese Fundamentalkompetenzen haben nämlich eines gemeinsam: Sie können dem Kind nicht einfach anerzogen oder sonst wie in pädagogischer Absicht vermittelt werden. Man kann ein Kind nicht stark machen – das Kind muss selbst stark werden. Auch Mitgefühl kann man einem Kind nicht beibringen. Soziale Kompetenz lässt sich erst recht nicht anerziehen – hier versagt selbst das pädagogisch wertvollste Programm. Genauso wenig kann man sich Kreativität erarbeiten – ja, man kann sie nicht einmal üben (Üben Sie einmal Kreativität mit einem Kind!). Mehr noch, beim Aufbau der Fundamentalkompetenzen stößt selbst die Vorbildpädagogik an ihre Grenzen:
Nicht wenige Kinder leben mit innerlich starken Eltern oder Erzieher* innen, finden aber selbst keinen Ansatz, um mit ihren eigenen Ängsten umzugehen. Man kann sich, so scheint es, sein Entwicklungskapital nicht borgen oder direkt von anderen übernehmen. Aber wie entsteht dann das Fundament für einen sowohl belastbaren als auch flexiblen Lebensweg?
Um dies am Beispiel der Resilienz zu beantworten, will ich kurz den Forschungsstand zu diesem Thema zusammenfassen. Im deutschsprachigen Raum wird häufig die Begriffsbestimmung von Corinna Wustmann zitiert, nach der Resilienz „die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ beschreibt. Als Pionierin der Resilienzforschung gilt Emmy Werner, die mit ihrem Team den gesamten Geburtsjahrgang 1955 der Insel Kauai im Pazifik – etwa 700 Kinder – über 40 Jahre lang beobachtet hat. Fast 30 Prozent von ihnen wurden als Hoch- Risiko-Gruppe klassifiziert, weil sie mindestens vier Entwicklungsrisiken ausgesetzt waren, wie etwa chronische Armut, geburtsbedingte Komplikationen, familiäre Notlagen, ein geringes Bildungsniveau der Eltern, dauerhafte Disharmonie oder psychische Erkrankungen der Eltern. Von diesen „Verletzlichsten“ entwickelten sich immerhin ein Drittel zu „kompetenten, selbstsicheren und fürsorglichen Erwachsenen“. Die Kinder, die sich trotz allem positiv entwickelten, zeichneten sich durch die unterschiedlichsten Bewältigungs- und Schutzfaktoren aus. Sie hatten einen stabileren Familienzusammenhalt und bekamen schon als Säuglinge mehr Zuwendung und Bestärkung. Die Kinder waren eher „pflegeleicht“, weinten weniger und lächelten mehr. Im Kindesalter konn- ten diese Kinder leichter Kontakte knüpfen und hatten ein positives Selbstbild. Ihre schulischen Leistungen waren im Vergleich zu den anderen Hochrisikokindern besser. Im Kindes- und Jugendalter hatten die widerstandsfähigen Kinder mehr soziale Kontakte. Vor allem aber hatten sie mindestens eine Bezugsperson, die verlässlich für sie da war und sich fürsorglich und liebevoll um sie gekümmert hat. Dies waren beispielsweise ältere Geschwister, eine Nachbarin oder ein Nachbar, eine Erzieherin oder ein Erzieher oder eine Lehrerin oder ein Lehrer. Weitere Studien brachten neue Resilienzfaktoren ins Spiel, etwa die körperliche Attraktivität. Sie überraschten mit Widerspruch: Manche Studien sehen Erstgeborene als resilienter an, andere sehen keinen Einfluss der Geburtenfolge oder bestätigten Vorbefunde. So zeigt sich in aller Regel das weibliche Geschlecht als ein Schutzfaktor.
Wegen der engen Verbindung zwischen gelungener Entwicklung und Gesundheit befasst sich die Resilienzforschung auch mit der Frage, wodurch Menschen ihre Fähigkeit zu einem Leben in Gesundheit erlangen. Damit überschneidet sich ihre Fragestellung zum Teil mit dem sehr ähnlichen Ansatz der Salutogeneseforschung. Man kann den Begriff Salutogenese mit ‚Gesundheitsentstehung‘ beschreiben und ihn als Komplementärbegriff zur ‚Pathogenese‘, also zur Krankheitsentstehung, auffassen. Das Konzept der Salutogenese wurde von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt, der in den 1970er-Jahren den seelischen und körperlichen Gesundheitszustand von weiblichen KZ-Überlebenden mit Kontrollgruppen verglich. Sein überraschendes Ergebnis war, dass ungefähr ein Drittel der Frauen keine langfristigen körperlichen oder seelischen gesundheitlichen Schäden aufwiesen im Vergleich mit etwas mehr über 50 Prozent in seinen Kontrollgruppen. Nach seiner Analyse zeichnen sich im salutogenetischen Sinne resiliente Menschen durch ein Gefühl von Kohärenz aus. Darunter versteht Antonovsky eine Grundhaltung, die es einem Menschen erlaubt, die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben. Diese Grundhaltung stellt sich nach seinen Analysen dann ein, wenn ein Mensch in Lebenszusammenhängen lebt, die ihm verstehbar sind, die er handhaben und bewältigen kann und in denen er sich als bedeutsam erlebt.
Obwohl das Resilienzkonzept in aller Munde ist, bleibt die Resilienzforschung ein unübersichtliches Feld. Nicht nur sind viele der zu „Resilienzfaktoren“ erklärten Einflüsse subjektiv, situationsabhängig und überaus schwer zu messen. Das gilt etwa für das positive Selbstbild. Oft bleibt auch ungeklärt, ob es sich dabei um Ursachen oder um Folgen der untersuchten Entwicklungsverläufe handelt: Sind die besseren schulischen Leistungen nun Ursache oder Folge günstiger Entwicklungsbedingungen? Ist das positive Selbstbild die Voraussetzung oder die Auswirkung eines „resilienten“ Entwicklungsweges?
Bei anderen Faktoren steht die Frage der Kulturabhängigkeit im Raum: Ein Kind, das sich als Straßenverkäufer im Ghetto durchschlagen muss, wird Widrigkeiten mithilfe von anderen Unterstützungsfaktoren meistern als ein Kind aus dem deutschen Wirtschaftsadel. Vielleicht war zum Beispiel ADHS auf den Schiffen der Welteroberer zu Beginn der Neuzeit ein wichtiger Resilienzfaktor – heute bringt dieses Syndrom einen eher auf eine Förderschule oder ins Gefängnis. Auch bleibt die Bedeutung bzw. Gewichtung der Resilienzfaktoren eine offene Frage. Für gute Selbsterfahrungen und auch den Lebenserfolg in Deutschland dürfte in vielen Milieus der richtige Nachname – etwa Eleonore Prinz-Wohlfahrt statt Kevin El-Mouhammidi – wichtiger sein als zum Beispiel Klugheit und Intelligenz.
Tatsächlich wäre Resilienz der erste Schutz- und Erfolgsfaktor, der nicht auch abhängig von sozialen Einflüssen wäre: Hängt der Entwicklungserfolg nun an der resilienten Persönlichkeit oder an einer resilienten sozialen Umwelt? Spätestens wenn es um die Frage geht, wie Resilienz gefördert werden kann, wird diese Frage brandaktuell. Ob ein Kind entwicklungsförderliche Erfahrungen in einer Kita macht, hängt nun einmal nicht nur vom Kind, sondern auch ganz stark von der Kita ab. Und ob ein Kind eine verlässliche Bindungsperson außerhalb des Elternhauses finden kann, hängt eben auch von sozialen Faktoren ab, wie etwa seinem Wohnviertel oder der Beziehungsqualität und -konstanz in der Kita, in die es geht.
Zudem gibt es auf der Landkarte der Resilienzforschung nach wie vor viele weiße Flecken. So sind die Auswirkungen mancher wichtiger Entwicklungseinflüsse bisher kaum systematisch im Hinblick auf ihre stärkende, resilienzfördernde Wirkung untersucht worden. Das gilt etwa für die Qualität der Bildungsinstitutionen von der Krippe über die Kita bis zur Schule oder auch für die Auswirkungen des kindlichen Spiels oder die Zusammensetzung der Kindergruppen. Was bedeutet etwa eine Sozialisation in gleichaltrigen versus gemischtaltrigen Kindergruppen für die Resilienzentwicklung? Der Forschungsstand lässt sich deshalb so zusammenfassen: Das Resilienz-Konzept ist attraktiv, sollte aber nicht überspannt werden und sich ganz gewiss nicht in der Auflistung von Einflussfaktoren erschöpfen.
Folgen wir deshalb wieder der eingangs gelegten grundlegenderen Spur. Wenn man das Thema Resilienz rüttelt und schüttelt und die in den einzelnen Studien regelmäßig genannten Einflussfaktoren betrachtet, so ordnen sie sich immer wieder um zwei elementare Entwicklungserfahrungen: • gelungene Beziehungen und • gelungene Autonomie bzw. Wirksamkeitserfahrung. Das alte Lied also, das auch gelungene Bindung genannt wird. Das Kind, so scheint es, baut seine Widerstandsfähigkeit unter dem Schutz funktionierender Beziehungen und unter dem Schutz gelungener Autonomie auf: „Ich habe gute Beziehungsmodelle kennengelernt und ich habe gute Erfahrungen bei der Entdeckung der Welt gemacht!“ Dieses Doppelpaket ist deshalb bemerkenswert, weil wir hier im Grunde vor dem Entwicklungsmotor des Menschenkindes stehen: Gelungene, d. h. emotional sichernde Beziehungen geben dem Kind Schutz und einen Rahmen für seine Selbstregulation – sie sind gleichzeitig aber auch der wichtigste Geleitschutz für den Entdeckungsdrang des Kindes und damit für sein Lernen über die Welt. Das tägliche Brot der Pädagogik also: Dass das Kind den Spagat zwischen Sicherheit und Freiheit schafft. Dass es in seinem Alltag einerseits schützende, ermutigende Beziehungen zu Erwachsenen vorfindet – Beziehungen, die das Kind nicht in seelische Not stürzen und ihm seinen Wert vermitteln. Und dass es andererseits auch seine eigene Wirksamkeit ausleben, erproben und daran wachsen kann. Auch die Resilienzforschung lädt also dazu ein, über die kindliche Entwicklung noch einmal neu zu staunen: Man kann dem Menschenkind keine Rüstung anlegen, mit der es geschützt ist. Seine Rüstung muss von innen wachsen – auf einem von guten Beziehungen abgesicherten Weg der Selbstbewährung.
Dr. med. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Autor zahlreicher Bücher, v. a. zu Fragen kindlicher Entwicklung
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