Zurückhaltende Beobachtung
Unsere Aufgabe sehen wir in der zurückhaltenden Beobachtung der Kinder. Wir wissen, welches Material für ein Kind in den verschiedensten „sensiblen Phasen“ notwendig ist, und stellen es dann vor. Die Erzieherin führt die Bewegung der Übung ganz langsam aus und analysiert mit größter Genauigkeit, sodass die Handlung für das Kind durchschaubar wird. Die Arbeit mit den Materialien befriedigt und lenkt den enormen Bewegungsdrang des Kindes, koordiniert Geist und Bewegung. Dies wiederum führt zu Ausgeglichenheit und Ruhe.
Zustand innerer Zufriedenheit
So beobachten wir täglich, wie unabhängig Kinder vom Erwachsenen werden, da sich ihre Sicherheit entwickelt und das Selbstwertgefühl ihren Charakter bestimmt. In der Auseinandersetzung mit den Montessori-Materialien gewinnen die Kinder viele Erkenntnisse und machen Erfahrungen, die sie in die Umwelt transferieren. In der konzentrierten Arbeit erreichen die Kinder einen Zustand der inneren Zufriedenheit. Das beantwortet die Frage: „Wieso ist das immer so ruhig bei euch – sind nicht alle Kinder da?“ Die Kinder lernen, sich Zeit zu nehmen für den anderen, sie vertiefen ihre Erfahrungen im sozialen Miteinander. Sie bauen Gruppenbeziehungen auf und erfahren dabei, dass jeder einzigartig ist. Sie lernen Regeln und stärken ihre Persönlichkeit in einer stillen, angenehmen Umgebung. Sie lernen abzuwarten und andere nicht zu stören, da es ihnen auch von den betreuenden Personen so vorgelebt wird. Kein Erzieher verbessert oder greift in die Arbeit ein.
Stille in sich finden
So ist es mir als Leiterin unseres Kinderhauses ein großes Anliegen, die Mitarbeiterinnen regelmäßig zu schulen, denn um die Stille zu lehren, muss die Erzieherin selbst Erfahrungen mit Stille haben bzw. Stille finden können. Die innere Stille wirkt auf die Kinder, beispielsweise durch die Stimme, die Bewegung des Körpers im Raum und die innere Ausgeglichenheit.
Die Konzentration schützen
Die Erzieherin schützt die Konzentration des Kindes: Maria Montessori spricht von „Polarisation der Aufmerksamkeit“, indem sie alle Störungen vom Kind fernhält. Wenn ein Kind am Tisch oder an einem Arbeitsteppich arbeitet, liegt dort ein Hinweisschild: „Bitte nicht stören!“ Damit sagt das Kind: „Ich will in Stille arbeiten und keine Ablenkung erfahren!“ So kann das Kind in seine Arbeit versinken und vergisst das ganze Geschehen um sich herum. Es erfährt Muße und kann im Hier und Jetzt verweilen. Eine Atmosphäre der Muße gibt der Empfindsamkeit und der Achtsamkeit Raum und Zeit. So lehren uns die Kinder, dass sie sehr wohl still sein können, still aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus. Diese Stille lässt sich niemals durch Befehle erreichen.
Zusammenarbeit mit Eltern
In regelmäßigen Elternabenden zeigen wir Eltern, wie wichtig es für die seelische und körperliche Gesundheit ihrer Kindern ist, ihnen Erfahrungen der Stille auch zu Hause zu ermöglichen. „Verplante“ Kinder zeigen bei Leerzeiten meist Unruhe, Nervosität und Nörgelei. Wenn wir jedoch die Entwicklung unserer Kinder aufmerksam beobachten, können wir täglich erleben, wie sie sich mit Dingen auseinandersetzen, dabei Ausdauer und Konzentration zeigen. Wir lernen, das Kind nicht nur besser zu verstehen, wir trauen ihm auch mehr zu. Dadurch können Vorurteile abgebaut werden, wir staunen über seine Energie und müssen gleichzeitig akzeptieren, dass wir selbst gar nicht so sehr gefragt sind, dass das Kind vielmehr Zurückhaltung von uns erwartet und einfordert. Wenn uns dies gelingt, dann sind wir unentbehrlich für das Kind, denn wir helfen ihm, sich frei und in Stille zu entwickeln. Wir begleiten es damit auf dem Weg zu sich selbst, zur Entdeckung seiner Mitte, zur Konzentration. Und der Gewinn für uns? Wir erleben den Erziehungsalltag entspannter, harmonischer, ruhiger und stressfreier. Kinder und Erwachsene kommen sich näher.
Übungen der Stille
Regelmäßig führen wir im Kinderhaus Übungen der Stille durch. Maria Montessori nennt es das „Gehen auf der Linie“. Die Kinder lernen, durch diese Übungen die Stille zu genießen. Sie finden Rückzugsmöglichkeit, um Kraft zu schöpfen. Sie erfahren sich selbst und die Gruppe auf neue Art. Die Sensibilität gegenüber lauten Geräuschen und die Liebe zur Stille nehmen zu. Auf diese Weise gelangen die Kinder zu höherer Disziplin. In einem gemeinsam erarbeiteten „Strickmuster von Regeln“ lernen unsere Kinder aus Konsequenzen und bauen verschiedene Kompetenzen auf. Dabei ist es wichtig, Vertrauen und Zutrauen zu erfahren. „Gute Atmosphäre, die zur Bildung hilft, bildet sich nicht ohne Stille!“, so Maria Montessori. Stille wächst und reift von innen her. Beobachtungen zeigen, dass Kinder eine große und tiefe innere Bereitschaft zur Stille und Ruhe haben, die sie zur Entfaltung ihrer Kräfte benötigen. Durch das konsequente Leben der Montessori-Prinzipien entsteht in unserem Kinderhaus eine nicht aufgesetzte, sondern eine natürliche Ruhe, sodass tatsächlich Besucher und Hospitanten die Frage stellen: „Wieso ist es immer so ruhig bei euch – sind nicht alle Kinder da?“
Heidemarie Hitzler ist Montessori-Pädagogin, Leitung des Montessori-Kinderhauses St. Franziskus in Gundelfingen a. d. Donau, Coach, Elternbegleiterin.
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