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Im Montessori-Kinderhaus St. Franziskus in Gundelfingen gründeten wir einen Waldkindergarten auf Grundlage der Montessori-Prinzipien. Kinder und Eltern arbeiteten auf ihre Art und Weise mit. An einem der vielen Arbeitstage saß ein zweijähriges Kind am Eingang, an dem sich Kieselsteine befanden. Mit einer kleinen Sandschaufel und einem leeren Blecheimerchen mühte es sich ab, die Schottersteine des Weges zu sammeln, um den Eimer damit zu füllen. Das Kind zeigte höchste Konzentration. Neben ihm war seine Mutter, die sich mit großer Sorgfalt liebevoll um ihr Kind kümmerte. Als es Zeit wurde, nach Hause zu gehen, ermunterte die Mutter ihr Kind, seine Arbeit zu beenden und sich in den Kinderwagen zu setzen. Das Kind weigerte sich. Daraufhin füllte die Mutter den Eimer mit den Steinen und setzte ihr Kind in den Wagen. Sie war davon überzeugt, ihr Kind zufriedengestellt zu haben. Sie erntete jedoch großen Protest. Ihr Kind fühlte sich offensichtlich unglücklich und gekränkt. Es wollte nicht den Eimer mit den Steinchen, es wollte seine Arbeit weitermachen, die zum Füllen notwendig war. Hätte es nämlich den Eimer selbst gefüllt, so hätte es den Eimer noch mehrmals geleert, und zwar bis zur vollständigen Befriedigung seines Ichs.
Dies ist ein Beispiel dafür, was Kinder oftmals erleben. Der Erwachsene versteht ihr Tun nicht, weil er nach seinen Maßstäben urteilt. Er glaubt, das Kind würde sich äußere Ziele setzen, und ist ihm liebevoll behilflich, diese zu erreichen. Das Kind will sich aber selbst entwickeln. Deshalb verachtet es alles Erreichte und liebt alles, was noch erreicht werden muss. Es will sein Leben selbst aufbauen – darin liegt seine Freude. „Es ist weniger unser Ziel, Wissen zu vermitteln, als vielmehr die geistige Energie des Menschen sichtbar zu machen.“ Deshalb hat Maria Montessori ihre Materialien in verschiedene Bereiche unterteilt, die sich auch in unserem Kinderhaus wiederfinden. Das Kind besitzt einen „inneren Bauplan“, den es in einer vorbereiteten Umgebung entwickeln kann. In dieser Umgebung hat es die freie Wahl, womit und mit wem es sich beschäftigen möchte.
Dabei ist es wichtig, wie unser Beispiel zeigt, welche innere Haltung der Erwachsene, die Erzieherperson besitzt. Sie muss eine Sensibilität entwickeln, um das Phänomen Konzentration erkennen zu können, wenn es stattfindet. Sie muss mit dem Herzen sehen und wird ihrer Vorbildfunktion gerecht, indem sie jedem Kind mit Achtung und Respekt begegnet und es liebevoll wertschätzt.
Unsere Aufgabe sehen wir in der zurückhaltenden Beobachtung der Kinder. Wir wissen, welches Material für ein Kind in den verschiedensten „sensiblen Phasen“ notwendig ist, und stellen es dann vor. Die Erzieherin führt die Bewegung der Übung ganz langsam aus und analysiert mit größter Genauigkeit, sodass die Handlung für das Kind durchschaubar wird. Die Arbeit mit den Materialien befriedigt und lenkt den enormen Bewegungsdrang des Kindes, koordiniert Geist und Bewegung. Dies wiederum führt zu Ausgeglichenheit und Ruhe.
So beobachten wir täglich, wie unabhängig Kinder vom Erwachsenen werden, da sich ihre Sicherheit entwickelt und das Selbstwertgefühl ihren Charakter bestimmt. In der Auseinandersetzung mit den Montessori-Materialien gewinnen die Kinder viele Erkenntnisse und machen Erfahrungen, die sie in die Umwelt transferieren. In der konzentrierten Arbeit erreichen die Kinder einen Zustand der inneren Zufriedenheit. Das beantwortet die Frage: „Wieso ist das immer so ruhig bei euch – sind nicht alle Kinder da?“ Die Kinder lernen, sich Zeit zu nehmen für den anderen, sie vertiefen ihre Erfahrungen im sozialen Miteinander. Sie bauen Gruppenbeziehungen auf und erfahren dabei, dass jeder einzigartig ist. Sie lernen Regeln und stärken ihre Persönlichkeit in einer stillen, angenehmen Umgebung. Sie lernen abzuwarten und andere nicht zu stören, da es ihnen auch von den betreuenden Personen so vorgelebt wird. Kein Erzieher verbessert oder greift in die Arbeit ein.
So ist es mir als Leiterin unseres Kinderhauses ein großes Anliegen, die Mitarbeiterinnen regelmäßig zu schulen, denn um die Stille zu lehren, muss die Erzieherin selbst Erfahrungen mit Stille haben bzw. Stille finden können. Die innere Stille wirkt auf die Kinder, beispielsweise durch die Stimme, die Bewegung des Körpers im Raum und die innere Ausgeglichenheit.
Die Erzieherin schützt die Konzentration des Kindes: Maria Montessori spricht von „Polarisation der Aufmerksamkeit“, indem sie alle Störungen vom Kind fernhält. Wenn ein Kind am Tisch oder an einem Arbeitsteppich arbeitet, liegt dort ein Hinweisschild: „Bitte nicht stören!“ Damit sagt das Kind: „Ich will in Stille arbeiten und keine Ablenkung erfahren!“ So kann das Kind in seine Arbeit versinken und vergisst das ganze Geschehen um sich herum. Es erfährt Muße und kann im Hier und Jetzt verweilen. Eine Atmosphäre der Muße gibt der Empfindsamkeit und der Achtsamkeit Raum und Zeit. So lehren uns die Kinder, dass sie sehr wohl still sein können, still aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus. Diese Stille lässt sich niemals durch Befehle erreichen.
In regelmäßigen Elternabenden zeigen wir Eltern, wie wichtig es für die seelische und körperliche Gesundheit ihrer Kindern ist, ihnen Erfahrungen der Stille auch zu Hause zu ermöglichen. „Verplante“ Kinder zeigen bei Leerzeiten meist Unruhe, Nervosität und Nörgelei. Wenn wir jedoch die Entwicklung unserer Kinder aufmerksam beobachten, können wir täglich erleben, wie sie sich mit Dingen auseinandersetzen, dabei Ausdauer und Konzentration zeigen. Wir lernen, das Kind nicht nur besser zu verstehen, wir trauen ihm auch mehr zu. Dadurch können Vorurteile abgebaut werden, wir staunen über seine Energie und müssen gleichzeitig akzeptieren, dass wir selbst gar nicht so sehr gefragt sind, dass das Kind vielmehr Zurückhaltung von uns erwartet und einfordert. Wenn uns dies gelingt, dann sind wir unentbehrlich für das Kind, denn wir helfen ihm, sich frei und in Stille zu entwickeln. Wir begleiten es damit auf dem Weg zu sich selbst, zur Entdeckung seiner Mitte, zur Konzentration. Und der Gewinn für uns? Wir erleben den Erziehungsalltag entspannter, harmonischer, ruhiger und stressfreier. Kinder und Erwachsene kommen sich näher.
Regelmäßig führen wir im Kinderhaus Übungen der Stille durch. Maria Montessori nennt es das „Gehen auf der Linie“. Die Kinder lernen, durch diese Übungen die Stille zu genießen. Sie finden Rückzugsmöglichkeit, um Kraft zu schöpfen. Sie erfahren sich selbst und die Gruppe auf neue Art. Die Sensibilität gegenüber lauten Geräuschen und die Liebe zur Stille nehmen zu. Auf diese Weise gelangen die Kinder zu höherer Disziplin. In einem gemeinsam erarbeiteten „Strickmuster von Regeln“ lernen unsere Kinder aus Konsequenzen und bauen verschiedene Kompetenzen auf. Dabei ist es wichtig, Vertrauen und Zutrauen zu erfahren. „Gute Atmosphäre, die zur Bildung hilft, bildet sich nicht ohne Stille!“, so Maria Montessori. Stille wächst und reift von innen her. Beobachtungen zeigen, dass Kinder eine große und tiefe innere Bereitschaft zur Stille und Ruhe haben, die sie zur Entfaltung ihrer Kräfte benötigen. Durch das konsequente Leben der Montessori-Prinzipien entsteht in unserem Kinderhaus eine nicht aufgesetzte, sondern eine natürliche Ruhe, sodass tatsächlich Besucher und Hospitanten die Frage stellen: „Wieso ist es immer so ruhig bei euch – sind nicht alle Kinder da?“
Heidemarie Hitzler ist Montessori-Pädagogin, Leitung des Montessori-Kinderhauses St. Franziskus in Gundelfingen a. d. Donau, Coach, Elternbegleiterin.
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