Vernetzen als Privatvergnügen – Mängel im System
Zu wenig Zeit, weil zu viele Kinder zu betreuen sind: Die notwendige und gesetzlich geforderte Vernetzungsarbeit vieler pädagogischer Fachkräfte bleibt auf der Strecke. Unsere Autorin ist Diakonin und Sozialpädagogin. Sie arbeitet für die Gewerkschaft Verdi und zeigt, wo die Mängel im System liegen.Text: ELKE ALSAGO
Bild: ©Juanmonino/GettyImages
Ein Paradigmenwechsel?
Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe, auch der Kindertageseinrichtungen, ist das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Dies trat 1990 als Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Ost- und Westdeutschland in Kraft. Sozialpädagogisch bedeutete das neue Gesetz einen Paradigmenwechsel. Der Gesetzgeber hatte die jahrelange Kritik der Fachpolitik am Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) ernst genommen und die Fürsorge-, Ordnungs- und Kontrollfunktion und den Charakter einer Art Jugendpolizeigesetz aufgegeben. Insbesondere unter der Berücksichtigung des Achten Jugendberichtes des Bundesministeriums für Frauen und Jugend wurde ein Gesetz entwickelt, das sich an der Alltagswelt der Kinder, Jugendlichen und Familien orientierte und eher den Charakter eines Leistungsgesetzes zeigte.
Die Maximen Prävention, Dezentralisierung/Regionalisierung, Alltagsorientierung, Situationsbezogenheit, Ganzheitlichkeit, Integration, Partizipation und die Lebensweltorientierung waren für das Gesetz strukturgebend. Das heißt, das Kinder- und Jugendhilfegesetz hat nicht nur das einzelne Kind oder den einzelnen Jugendlichen im Blick, sondern fokussiert auch den Kontext, in dem diese aufwachsen. Im Achten Jugendbericht heißt es dazu: „Schwierigkeiten entwickeln sich in Stufen, in Phasen, im Lauf einer Biographie; sie würden sich häufig nicht entwickeln, wenn die Situationen weniger belastend wären und wenn Hilfen rechtzeitig gelängen, also: wenn präventive Hilfen erreichbar gewesen wären.“
Erreichbar sein für Jungen und Mädchen
Die Professionellen und die Maßnahmen müssen für Kinder und Jugendliche erreichbar sein. Regional und dezentral sind Angebote vorzuhalten, die Kinder und Familien in Anspruch nehmen können und ihre Lebenswirklichkeit und eigenen Netzwerke einbeziehen. Unter den Maximen Partizipation und Demokratisierung sieht das SGB VIII die Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten an der Gestaltung der Angebote und die Möglichkeit, diese freiwillig annehmen zu können, vor. Dies sind zentrale Voraussetzungen für das Gelingen sozialpädagogischer Prozesse. Kinder, Jugendliche und Familien sind maßgeblich zu beteiligen und müssen befähigt werden, Entscheidungen für die Gestaltung ihres Lebens zu treffen.
Des Weiteren ist notwendig, dass sich die Hilfe und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien an deren Alltag orientieren. Mit ihnen gemeinsam sind situationsbezogene Hilfen zu ent wickeln, die ihren individuellen Bedürfnissen und ihren Kontexten gerecht werden. Das heißt, die Hilfen zur Erziehung stellen immer individuell ausgerichtete Hilfen dar, die sich ganzheitlich auf die komplexen Lebensgeschichten und Erfahrungen ausrichten. Nur so ist es möglich, der Diversität der Adressatinnen und Adressaten respektvoll zu begegnen, Ressourcen zu entdecken und zu stärken. Schon 1990 war mit der Maxime Integration vorgesehen, dass alle Kinder und Jugendlichen, jenseits von stigmatisierenden Zuschreibungen wie zum Beispiel Behinderung, die Hilfen und Leistungen des KJHG in Anspruch nehmen können.
Hilfen individuell aushandeln
Um diese Strukturprinzipien zu realisieren, beschreibt der Ansatz der Lebensweltorientierung sozialpädagogische Handlungsmaximen. Diese sind
Aushandeln,
Reflektieren,
Einmischen und
Vernetzen/Planen.
Kinder- und Jugendhilfe im Sinne des KJHG ist eine Hilfe, die im Dialog ausgehandelt wird. Nicht die Pro fessionellen haben die Deutungshoheit über bestehende Probleme. Im Dialog mit Kindern, Jugendlich en und ihren Familien werden sie dargestellt und Lösungsstrategien sowie Angebote entwickelt. Dabei erfordert professionelles und so zialpädagogisches Handeln ein ständiges Reflektieren. Alle Entscheidungen müssen argumentier- und begründbar sein. Das heißt, es bedarf des methodisch abgesicherten (selbst-)kritischen Nachdenkens und des Austauschs über Ziele und Deutungsmuster und der Konsequenzen des professionellen Tuns.
Einmischen notwendig
Der sogenannte Einmischungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe findet sich in § 1 SGB VIII. Hier wird neben der vorgesehenen individuellen Hilfe auch formuliert, dass die Jugendhilfe „dazu beitragen (soll), Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ und „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“. Sprich: Der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist es, gesellschaftliche Entwicklungen zu analysieren und sich in alle Bereiche einzumischen, die das Leben der Kinder und Jugendlichen betreffen. Nicht nur die Begleitung eines einzelnen Kindes, sondern die Lebensbedingungen aller Kinder sind Gegenstand der Hilfe. Dazu sind Vernetzung und Planung unerlässlich – Vernetzung im Rahmen jeder einzelnen Unterstützungsleistung, um die alltagsorientierten Möglichkeiten mit den Kindern und Jugendlichen auszuloten und zu nutzen.
Aber vor allem ist Vernetzung sehr wichtig, um gemeinsam in der Kinder- und Jugendhilfe und mit anderen Akteuren und Akteurinnen von Institutionen, wie Schule, Gesundheitssystem, Verwaltung als Anwalt der Kinder und Jugendlichen, die Bedingungen in ihrem Sozialraum so weiterzuentwickeln, dass ein gutes und gesundes Aufwachsen möglich wird, wie Hans Thiersch, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik der Universität Tübingen, argumentiert. Netzwerke gelingen dort, wo Menschen erkennen und erleben können, welchen Sinn die Netzwerkarbeit macht. Gleichzeitig müssen sie in der Lage sein, diese zu leisten. Das heißt, insbesondere müssen ihnen die zeitlichen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stehen. Netzwerke gelingen nur schlecht, wie der Vernetzungsberater und Sozialwissenschaftler Wolfgang Fänderl schreibt, wenn sie durch Druck und ohne Ausstattung entstehen sollen.
Mängel im System
Doch die im Gesetz angelegten Maximen konnten sich nie wirklich als Arbeitsprinzipien in Ost- und Westdeutschland etablieren. Denn schon ab Mitte der 1990er-Jahre wurden Steuerungsinstrumente eingesetzt, die die Jugendhilfe nach wettbewerbsorientierten Merkmalen umbauen und möglichst billig machen sollten. Dazu gehört die Abkehr von der Pauschalfinanzierung von Einrichtungen hin zu Fachleistungsstunden in den Hilfen zur Erziehung, zu Gutscheinsystemen im Kita- Bereich und zu einem Verständnis von Fall-Management (Case Management) in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter. Damit steht nur noch der einzelne Fall im Fokus, nicht jedoch die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und schon gar nicht die notwendige Vernetzung im Sozialraum.
Die Mängel im System der Kinder- und Jugendhilfe wurden dem Gesetzgeber durch tragische Todesfälle von Kindern vor Augen geführt. Doch statt die Kinder- und Jugendhilfe umfassend mit den notwendigen personellen Kapazitäten auszustatten, die nötig sind, um die sozial pädagogische Arbeit gemäß des SGB VIII zu gewährleisten, wurde 2011 ein neues Gesetz geschaffen, das die Kooperation und Netzwerkarbeit im Rahmen des Kinderschutzes verpflichtend machte – Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Dieses Gesetz bedeutet jedoch nur, dass der Schutz gefährdeter Kinder in den Mittelpunkt gerückt wird. Damit werden die Lebenslagen der Kinder individualisiert. Nicht das Wohl und das gute Aufwachsen aller Kinder soll befördert und garantiert werden, sondern das Schlimmste sollte verhindert werden.
Vernetzen ohne Ressourcen
Doch selbst für diese Arbeit werden den sozialpädagogisch tätigen Professionellen in Kitas, Jugendämtern und in den Hilfen zur Erziehung nicht genügend Zeitressourcen zur Verfügung gestellt. Schlechte Personalschlüssel in den Kindertagesstätten, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern von eins zu fünfzehn im Elementarbereich, und hohe Fallzahlen von fünfzig bis über hundert Fällen pro Sozialarbeiterin in den Jugendämtern, wie Kathinka Beckmann, Professorin an der Hochschule Koblenz, die Realität beschreibt, lassen die notwendige Vernetzungsarbeit zum scheinbar privaten Vergnügen der Kolleginnen und Kollegen werden. Aus dem Verantwortungsgefühl den Kindern und Familien gegenüber widmen sich die Professionellen außerhalb ihrer Arbeitszeit der Vernetzung.
Dieses Phänomen zeigte sich auch bei der Verleihung des Deutschen Kita-Preises in der Kategorie „Lokales Bündnis für frühe Bildung des Jahres“ im Mai 2019. Auffallend ist hier, dass es in dieser Kategorie nur rund einhundert Bewerbungen gab, obwohl wie beschrieben die Netzwerkarbeit eigentlich Standard sein sollte. In der Kategorie „Kita des Jahres“ hingegen lagen etwa tausendfünfhundert Bewerbungen vor. Alle Bündnisse, auch das mit dem ersten Platz ausgezeichnete Bündnis „Netzwerk INFamilie Hannibal- und Brunnenstraßenviertel Dortmund“, machen deutlich, dass diese sehr gute Netzwerkarbeit nur gelingt, wenn die Kolleginnen und Kollegen an allen Stellen bereit sind, sich über ihre entlohnte Tätigkeit hinaus dauerhaft zu engagieren. Dies kann jedoch zu Überlastung, Burn-out und zum vorzeitigen Ausscheiden aus den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe führen.
Trotz gesetzlichen Rahmens und sozialpädagogischer und gesellschaftlicher Notwendigkeit ist die Politik nicht bereit, ausreichend finanzielle Mittel und Personal zur Verfügung zu stellen. Das Interesse ist ausschließlich, die öffentlichen und medienwirksamen, schlimmsten Fälle zu verhindern. Denn diese stehen den politischen Karrieren im Weg. Bedingungen für ein gutes und gelingendes Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen scheinen zu teuer.
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