29.05.2020
Klaus Kokemoor © smartboy10/GettyImages
Redaktion

Die Angst an der Käsetheke – Resonanz

Masken tragen, Abstand halten. In Zeiten von Corona sind das die neuen Regeln – nicht nur im Supermarkt. Aber was macht das mit uns? Der Sozialpädagoge KlausKokemoor erklärt, warum uns diese Regeln irritieren – und wie wir trotzdem gut damit umgehen können.

Text: Klaus Kokemoor
Bild: © smartboy10/GettyImages

Als ich an die Käsetheke im Supermarkt trete, fixiert mich ein einjähriger Junge aus 1,5 Meter Distanz, der in seiner Karre sitzt. Während er dieses unaufhörlich tut, wird mir erst bewusst, warum er seinen skeptischen Blick so lange aufrechterhält, bis er schließlich zu weinen beginnt. Ich trage eine Maske. Und auch wenn mir das Gummiband hinter den Ohren dies spürbar verdeutlicht, bin ich mir noch nicht über die Auswirkungen dieser Bedeckung bewusst. Eines scheint klar: Dem kleinen Jungen an der Käsetheke habe ich Angst gemacht, da er lediglich meine Augen sehen konnte. Das, was sonst ein Gesicht ausmacht, bleibt verborgen. Eigentlich ist er schon seit seiner Geburt in der Lage, Gesichtsausdrücke, wenn sie ihm in ihrer ganzen Pracht dargeboten werden, zu erkennen und diese auch mittlerweile einigermaßen einzuordnen.

Als ich mich später an der Kasse im Supermarkt anstelle, starren mich zwei Augen über einer karierten, selbstgenähten Maske an. Denn der Rest bleibt auch mir verborgen. In meinem Inneren spüre ich sofort meine emotionalen Resonanzvorgänge. Was sagen mir diese Augen? Sind sie freundlich, oder sind sie böse, weil ich möglicherweiseden Sicherheitsabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten habe? Normalerweise bin ich über die inneren Zustände anderer informiert, spüre Ablehnung oder Verbundenheit. Jetzt fehlt auch mir die Hälfte des Gesichtes, um in mir ein Gefühl zu entwickeln, welche Botschaft mir mein Gegenüber jenseits der Sprache vermitteln möchte. Die Mimik, eine der bedeutsamsten sozialen Signale, um sich nonverbal zu verständigen, ist außer Kraft.

Ich suche auf dem Fußboden nach Orientierung. Doch diese 1,5 Meter Formel, die sich nun überall auf den Fußböden abbildet und uns Orientierung geben soll, ist eine weitere Irritation im zwischenmenschlichen Raum. Sie entspricht nicht meinem Wunsch, mein intuitives Wissen nutzen zu können, um ein Nähe-Distanz-Gefühl zum Gegenüber herzustellen. 1,5 Meter, und es istegal, ob Fremde oder Freunde: Die Abstandsregel bleibtgleich. Wir entscheiden also nicht mehr nach Gefühl und Intuition, sondern folgen Linien oder einem gedachten Zollstock, den wir immer bei uns tragen. Dabei haben wir uns von Kindesbeinen an ein eigenes Navigationssystem entwickelt, welches unsere individuelle Richtschnur für Nähe und Distanz zu anderen Menschen festlegt.

Die nonverbale Kommunikation nimmt von Geburt an ein beträchtliches Ausmaß in der sozialen Interaktion zwischen dem Kind und seinen Eltern ein.* Nach der Geburt ist es weniger die Sprache, sondern die Stimme der Eltern sowie ihre Nähe und ihre Berührungen, die grundlegend für das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit sind. Die Eltern stellen intuitiv ihren Körper zur Verfügung und versuchen, die Gemütszustände des Kindes zu erspüren. Sie schwingen mit, gehen zu dem Ausdruck des Kindes in Resonanz und reagieren mit Unterstützung ihrer Spiegelneuronen auf die Empfindungen des Kindes. Sie bemerken an seiner Mimik und am Verhalten des Säuglings, dass ihr eigenes Verhalten richtig war. Doch auch der Säugling ist mit dem neuronalen Format der Spiegelneuronen ausgestattet und schon sehr früh in der Lage, unterschiedliche Gesichtsausdrücke zu erkennen und zu imitieren.** Diese Imitation bildet die Basis für Empathie, denn der Säugling versteht zunehmend die Mimik des anderen, mit eigenen Empfindungen in Einklang zu bringen.***

Nur gut, dass wir im familiären Umfeldkeine Maske tragen und dieses mimische Wechselspiel zwischen Eltern und Kind weiter möglich ist. So freue ich mich, als ich durch die Haustür trete, auf meine Kinder, doch auch diese Begegnung wird durch die coronabedingte Routine des zwanzig Sekunden Händewaschen durchbrochen. Nach der Begrüßung im Home angekommen, begebe ich mich ins Office, um mein erstes Webinar mit 13 Menschen, die ich noch nie gesehen habe, zu halten. Der Rechner fährt hoch – und mit ihm die Angst, ob die Technik, dieser für mich neuen zwischenmenschlichen Begegnung, hält.

Es scheint alles zu klappen. Die ersten Teilnehmerinnen, die eigentlich über hundert Kilometer entfernt sind, erscheinen in ihrer Küche, ihrem Wohnzimmer oder ihrem Büro maskenfrei auf meinem Bildschirm. Ich beginne zu sprechen, und es wird mir sofort bewusst, dass eine akustische Resonanz fehlt, da die Mikrofone der Teilnehmerinnen ausgeschaltet sind. Es ist schön, in die Gesichter zu schauen, um so Reaktionen auf meine Worte wahrnehmenzu können. Doch es ist nicht einfach, die Blicke einzufangen, da alle auf ihren Bildschirm und nicht in die Kamera schauen. Es gibt nur selten Blickkontakt, keinen gemeinsamen visuellen Fixpunkt. Als ich später meinen Bildschirm für eine Bildbeschreibung freigebe und die Teilnehmer von der Bildfläche verschwinden, merke ich, wie meine sonst feste Stimme brüchig wird. Das Bild der Menschen ist weg. Der Ton ist aus, und mir fehlt die visuelle und akustische Resonanz auf mein gesprochenes Wort. So muss man sich fühlen, wenn man im Radio spricht und nicht weiß, wie die eigenen Worte aufgenommen werden.

Wir sind von Geburt an auf Resonanz hin angelegte Wesen, und mir wird nach fünf Minuten Webinar deutlich, dass diese Errungenschaft der Digitalisierung in der Arbeitswelt und der Schule niemals eine wirkliche, physische Begegnung ersetzen wird.**** Denn auch als die Gesichter mit den dazugehörigen Stimmen wieder auftauchen, fehlt mir der Blick auf die nonverbalen Signale, die der ganze Körper auszusenden versteht. So können wir uns nicht mit der Qualität und Reinheit verstehen und verständigen. Auch wenn es sinnvoll ist, dass unsere Politiker nicht mehr wegen jeder Konferenz um die Welt fliegen, werden in den Videokonferenzen wichtige Faktoren der zwischenmenschlichen Verbundenheit und Verständigung auf der Strecke bleiben.

Nun werden uns Videokonferenzen, Abstandsregelungen und Masken noch eine Zeitlang begleiten. Sehen wir es positiv. So gibt uns eine Maske gerade in ihrem traditionellen Gebrauch, die Möglichkeit, für eine Weile aus unserem normalen Alltag auszusteigen, sich als ein anderer auszuprobieren. Also sollten wir die Maske nicht als Maulkorb begreifen, sondern als Verkleidung, die uns beispielweise ermutigt, mehr mit unseren Händen zu sprechen. Denn Menschen, die mit Händen kommunizieren, werden als warm, angenehm und energetisch wahrgenommen. Vielleicht können wir so wieder mehr lernen,unsere Gedanken und Gefühle mit unseren Handgesten auszudrücken, die in vielen Völkern in Resonanz zu den Gefühlen stehen. Das Leben geht weiter!

Klaus Kokemoor ist Diplom-Sozialpädagoge, Autor, Supervisor und Therapeut. Er arbeitet als Koordinator für das Thema Inklusion der Stadt Hannover.

* Vgl. Remo H. Largo; Carolin Benz 2008, Seite 292.
** Vgl. Joachim Bauer 2008, Seite 119f.
*** Vgl. Lise Eliot 2002, Seite 427 f.
**** Vgl. Manfred Spitzer 2012, Seite 196.

Ihnen hat der Artikel "Resonanz - Die Angst an der Käsetheke" gefallen? Weitere Tipps, Wissenswertes und Ideen finden Sie in unserer TPS. Hier bestellen!

TPS 3_20_Mach mal Technik

Kontakt halten – Kinderkanal und Wäscheleine
„Scheiß-Corona“ oder: Wie sehr leiden Kinder?
Nähe trotz Abstand – "Wir vermissen euch!"

Bitte warten Sie einen Moment.