04.04.2023
Eike Ostendorf-Servissoglou

Aktionskunst in der Kita

Der mit Papier beklebte Boden des Atelierraums einer Kita wird zur Kunst-Aktionsfläche: Mit Buntstiften, Ölkreiden und Wasserfarben entsteht ein Gemeinschaftskunstwerk, das sich stetig verändert – ein Atelier im Wandel.

Von einer Druckerei bekommt das element- i Kinderhaus Wirbelwind in Karlsruhe eine dicke Rolle zirka ein Meter breites Endlospapier geschenkt. „Was für eine Chance!“, denkt sich Erzieher Daniel Jacobi-Kessel, räumt zusammen mit den Kindern und einem Kollegen den etwa 30 Quadratmeter großen Atelierraum der Kita leer und befestigt das Papier mit Kreppband flächig auf dem Boden. „Ich erlebe immer wieder, wie positiv es auf die Kinder wirkt, wenn sie großflächig arbeiten können“, sagt der Erzieher. „Das ermöglicht andere Bewegungsabläufe. Außerdem füllt das Werk das Blickfeld aus. Das hilft den Kindern, ganz in ihre Arbeit einzutauchen und in einen Flow-Zustand zu kommen.“

Feine Zeichnungen mit Buntstiften

Zunächst gehen die Kinder mit Bleiund Buntstiften ans Werk. „Sie krabbeln sofort los und belegen die Fläche mit Beschlag“, beobachtet Jacobi-Kessel. Maximal acht Mädchen und Jungen nehmen gleichzeitig an der Kunst-Aktion teil. So haben sie ausreichend Spielraum. Auf ein Thema legen sie sich nicht fest. Jede:r zeichnet, was er oder sie möchte. Bald zieren Häuser, Blumen, Menschen und Tiere den Boden. Dazu gibt es Pop-Musik, von der sich die Kinder inspirieren lassen. „Das kennen sie schon“, berichtet der Erzieher. „Ich lasse im Atelier immer Musik laufen – echte Erwachsenenmusik. Den Kindern gefällt das sehr.“

Die eigene Zeichnung wird verändert

Doch je mehr Zeichnungen auf dem Boden entstehen, desto mehr greifen sie ineinander. Was ein Kind gemalt hat führt ein anderes fort. Aus einem Gartenzaun wird ein Tiergehege. Aus einem kleinen Häuschen ein Hochhaus. Manche Zeichnungen werden so verändert, dass sie unkenntlich sind. Einige Kinder reagieren empört: „Das ist meine Stelle. Hier darf kein anderer malen“, sagen sie und kreisen „ihren“ Bereich ein. „Wir haben einige Gespräche darüber geführt, dass wir jetzt eine Gemeinschaftsarbeit machen und dass es spannend ist zu sehen, wie sie sich durch die vielen einzelnen Beiträge entwickelt und verändert“, erläutert der Erzieher. „Ich habe das dann immer wieder thematisiert. Wer sich in unserer morgendlichen Kinderkonferenz für einen ‚Atelier-im-Wandel‘-Impuls entschied, kannte also die ‚Spielregeln‘.“

Spannende Effekte: Ölkreiden & Wasserfarben

Mit Ölkreiden geht die Malaktion weiter: „Diese Farben sind besonders für junge Kinder ideal“, sagt der Pädagoge. „Es ist wenig Druck nötig, um damit farbintensive Spuren auf dem Papier zu hinterlassen.“ Von den Blei- und Buntstiftzeichnungen ist daher bald wenig zu sehen. Im nächsten Schritt kommen Wasserfarben dran. Sie perlen auf den Ölkreiden ab. Das sorgt für spannende Effekte. Und wie sich zeigt, ist das Papier so dick, dass es nicht wellt – ideal!

Jetzt wird’s flächig: Fingerfarben

Große Farbflächen erhält das Gemeinschaftskunstwerk anschließend durch die Verwendung von Cromarfarben (Fingerfarben). „Die Kinder arbeiten nur in Unterwäsche. Ich hatte zwar Pinsel zur Verfügung gestellt, die meisten entscheiden sich jedoch, mit Fingern, Füßen, Armen und Beinen zu malen. Schließlich sehen sie aus wie kleine bunte Hunde“, lacht Daniel Jacobi- Kessel.

Vorsicht bei der Tusche

Am nächsten Tag gibt es ein Kontrastprogramm: „Wir nutzen sogenannte Kaligrafie-Tusche. Sie hat ein richtig tiefes Pechschwarz und glänzt auch in trockenem Zustand. Sie überdeckt alles“, erläutert der Pädagoge. Und sie hat weitere Besonderheiten: Flecken sind aus Kleidung nicht mehr zu entfernen. Auch von der Haut geht sie nicht so einfach ab. Daher ist jetzt Achtsamkeit gefragt. Bei Mittelaltermusik und Pagan-Folk machen sich die Kinder – sicherheitshalber nur mit Unterwäsche bekleidet – vorsichtig ans Werk und überdecken die leuchtenden Farben mit sattem Schwarz. Was für ein Unterschied!

Leuchten

Was nun? Der Erzieher hat eine Idee: Er verdunkelt das Atelier und hängt eine Schwarzlichtlampe auf. Anschließend malen die Kinder mit weißer Fingerfarbe auf der schwarzen Fläche. Wie das leuchtet! Die Kinder sind begeistert und hüpfen zu David-Bowie-Klängen herum, legen sich in das Bild und spritzen mit der weißen Farbe. „Das ist total cool!“, lautet ihr Urteil. Beim Bringen oder Abholen müssen auch die Eltern unbedingt einen Blick in das verdunkelte Atelier mit dem fluoreszierenden Kunstwerk werfen. „Ich habe dann noch Neonfarben gekauft, die ebenfalls im Schwarzlicht leuchten. Damit haben wir die weißen Partien noch einmal bunt übermalt“, berichtet der Erzieher. „Da fast alle Kinder diesen Schwarzlichteffekt erleben wollten, haben wir den Impuls mehrere Tage hintereinander angeboten.“

Die dritte Dimension

Und dann geht es in die Höhe: Weiße Bauklötze sowie Trapezsteine wandern vom Bauzimmer ins Atelier und werden dort zu leuchtenden Häusern, Straßen und Mustern. „Diese Idee zieht dann sogar die eingefleischtesten Atelier- Abstinenzler:innen in meinen Bereich“, amüsiert sich der Erzieher, dem es wichtig ist zu zeigen, dass Kunst auch dreidimensional sein und viele unterschiedliche Materialien einbeziehen kann.

Vom Kunstwerk zurück zum Papier

Das Projekt ist beendet. Doch was passiert mit dem vielen Papier? „Im Sinne der Nachhaltigkeit beschlossen wir, daraus unser eigenes Papier zu schöpfen“, sagt Daniel Jacobi-Kessel. Die Kinder zerreißen ihr Kunstwerk daher in mühevoller Kleinarbeit in winzige Stücke, weichen die Schnipsel ein, erzeugen so eine Pulpe und schöpfen daraus neues Papier für künftig Kunstwerke. „Es sah spannend aus: Die Chinatusche machte das Papier gräulich-rötlich und sorgte für schwarze Flecken“, berichtet der Kunst-Pädagoge, der die Kinder gerne mit der eigenen Kunstbegeisterung ansteckt.

Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen

Seit 15 Jahren ist Daniel Jacobi-Kessel in der Kita für den Bildungsbereich Ästhetik, Kunst und Kreativität zuständig und will etwas verändern in den Köpfen. „Die Kinder sollen hier nicht nur im Frühling eine Tulpe basteln und im Herbst eine Laterne. Sie sollen erfahren, was Kunst bedeutet, anschauen, was Künstler:innen geschaffen haben, und erfahren, welche Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten es gibt“, sagt er. Ganz wichtig dabei: „Wir bewerten nicht. Wer sagt ‚Das ist ja nur Krickelkrackel‘, dem zeige ich ein Bild des bekannten amerikanischen Künstlers Jackson Pollock.“ Der begründete die Stilrichtung des Action Painting und hätte am Atelier-im-Wandel-Projekt sicherlich seine Freude gehabt.

Eike Ostendorf-Servissoglou, eoscript, Redaktionsbüro für Bildung und Soziales, Stuttgart. Kontakt: www.element-i-bildungsstiftung.de- Link zum Kinderhaus: element-i Kinderhaus Wirbelwind, www.element-i.de/kinderhaeuser/ sportkita-wirbelwind/

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