23.09.2019
VERONIKA VERBEEK
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Von Geburt an anders – Kindliches Temperament

Kinder so anzunehmen, wie sie sind, gelingt besonders gut in der Diversitätspädagogik, in der Unterschiedlichkeiten gewürdigt werden. Der Fokus auf Vielfalt sollte uns aber nicht vergessen lassen: Extreme Temperamente können zu Verhaltensstörungen führen.

Text: VERONIKA VERBEEK | Bild: ©greg801/GettyImages

Dass schon Babys sich grundlegend unterscheiden und kleine Kinder bereits ausgeprägte Wesensmerkmale haben, gehört zu den typischen Erfahrungen von Eltern. Kinder als Persönlichkeiten wahrzunehmen und in einem individualisierenden Zugang in ihrer Entwicklung zu begleiten, ist ein wichtiger Grundsatz moderner Kita- Pädagogik. Wie können Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit aber fachlich fundiert beschrieben werden und welche Konsequenzen ergeben sich für den Erziehungsauftrag in der Kita, auch um eventuelle Entwicklungsgefährdungen zu verhindern? Als theoretische Basis für diese Fragen erweisen sich die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse zum kindlichen Temperament als ganz besonders nützlich.

Typenlehren sind irreführend

Der Begriff Temperament wird im Alltag häufig missverständlich gebraucht. Unter Temperament verstehen wir einseitig eine „lebhafte, leicht erregbare Wesensart“, wie es dazu im Duden heißt. Sucht man den Begriff Temperament im Int ernet, so offenbaren zahllose Treff er eine weitverbreitete, vorrangig pseudowissenschaftlich geprägte Auseinandersetzung mit dem Thema. Auf der Grundlage der Lehre von den Körpersäften des antiken Arz-tes Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) werden erstaunlicherweise bis in die Gegenwart hinein vier Temperamentstypen unterschieden: das heiter-aktive Temperament des Sanguinikers, das passiv-schwerfällige des Phlegmatikers, das reiz- und erregbare des Cholerikers oder das traurig-nachdenkliche des Melancholikers. In der Waldorf-Pädagogik gilt diese Lehre bis heute als Ver stehenshilfe für Kinder (wie zum Beispiel Eller, 2012).

Natürlich entspricht diese Konstitutions- und Wesenslehre nicht mehr modernen Vorstellungen von der Entwicklung des Kindes. Seit Jahrzehnten liegen differenzierte und aufwendig erforschte Theorien zum Temperament vor, die bislang allerdings wenig Eingang in die Kita- Pädagogik gefunden haben (im Überblick zum Beispiel Boerner, 2016).

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Was ist Temperament wirklich?

In der Entwicklungspsychologie wird Temperament als biologienaher Anteil der Persönlichkeit verstanden, der schon in den ersten Lebensmonaten beobachtbar ist und situationsübergreifend sowie über längere Entwicklungszeiträume hinweg das typische Erleben und Verhalten einer Person kennzeichnet (vergleiche Petermann & Asendorpf, 2019). Die US-amerikanischen Kinderpsychiater Alexander Thomas und Stella Chess begründeten die erfahrungswissenschaftliche Temperamentsforschung. In einer Längsschnittstudie gelang es ihnen, die Entwicklung von Kindern im Verlauf von dreißig Jahren zu untersuchen. Nach Thomas und Chess (1980) lässt sich jedes Kind mittels folgender neun Temperamentsdimensionen beschreiben:

Bereits beim Lesen wird deutlich, dass die gleichzeitige Anwendung aller Temperamentsdimensionen nicht nur bei Kindern, sondern auch noch bei Erwachsenen zu einer auf den Kern der Persönlichkeit konzentrierten und dennoch differenzierten Beschreibung führen kann.

Ein paar Beispiele zum besseren Verständnis: Besonders in der Eingewöhnungsphase und später beim Übergang in die Grundschule wird erkennbar, ob ein Kind sich eher zügig, in einem mittleren Tempo oder auffallend zögerlich neuen Situationen annähert. Kinder reagieren in Abhängigkeit von Rhythmus, Anpassungsfähigkeit und Sensitivität auch unterschiedlich auf die Rahmenbedingungen in der Kita, was eine ungleiche Bewältigung offener Kindergartenkonzepte verständlich macht. Und erst in strukturierten Lernsituationen zeigen sich Unterschiede in der temperamentsbedingten Ablenkbarkeit, Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer eines Kita-Kindes.

Das sonnige Wesen oder häufiges Quengeln bei kleinen Kindern sind mitunter Ausdruck des Temperamentsmerkmals Stimmungsqualität. In einem individualisierenden Zugang ist es in der Kindertagesbetreuung typisch, Kinder so anzunehmen, wie sie sich wesensmäßig unterschiedlich zeigen. Vor allem in einer Diversitätspädagogik, in der Würdigung von Unterschiedlichkeit, gelingt dies besonders gut. Der moderne Fokus auf Vielfalt sollte den Blick aber nicht dafür verstellen, dass mit einigen extremen Temperamentsausprägungen auch Entwicklungsgefährdungen für Kinder verbunden sind.

Temperamentsmerkmale mit Risiken

Mittels statistischer Analysen reduzierte das Forscherpaar Thomas und Chess die hohe Komplexität von neun Temperamentsdimensionen auf drei Kategorien, denen sich 65 Prozent der Babys zuordnen ließen. Babys, die aufgrund ihres Temperamentsprofils dem Faktor easy-to-handle zugeordnet werden konnten, bildeten die Mehrheit (40 Prozent). Kinder, die der Kategorie difficult/ hard-to-handle (10 Prozent) oder slow-to-warm-up (15 Prozent) angehörten, wurden eher als herausfordernd erlebt.

Obgleich die Datenreduktion der neun Temperamentsdimensionen auf drei Typen eine starke Vereinfachung darstellte, wurde der Blick für genetisch bedingte Ressourcen oder Risiken für die weitere Entwicklung der Kinder frei. Während ein einfaches Temperament mit eher unauffälligen Entwicklungsverläufen in Kindheit und Jugend einhergeht, gilt vor allem ein schwieriges, aber auch ein gehemmtes Wesen nachweislich als biologischer Risikofaktor für Verhaltensstörungen im Kindesalter und Jugendalter.

Ungünstige Startbedingungen

Betrachtet man die obige ausführliche Beschreibung der neun Temperamentsmerkmale, so wird deutlich, dass vor allem extreme Ausprägungen ungünstige Startbedingungen in Bezug auf soziale Kompetenzen und Lernverhalten darstellen. Kinder mit einer temperamentsbedingten höheren Ablenkbarkeit und Aktivität sowie geringer Aufmerksamkeitsdauer könnten ihr geistiges Potenzial nicht optimal ausschöpfen und im Schulalter möglicherweise eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) entwickeln.

Junge Menschen mit einer Neigung zu hoher Reaktionsintensität und hohem Annäherungsverhalten könnten aggressive Impulse wenig kontrollieren und sogar Störungen des Sozialverhaltens zeigen. Kinder mit Rückzugsverhalten, geringer Reizintensität und geringer Anpassungsfähigkeit sind anfällig für Angststörungen wie kindliche Trennungsangst oder Phobien. Oder anders formuliert: Bei Kindern mit Verhaltensstörungen lassen sich immer auch temperamentsbezogene Risikofaktoren finden.

Von Geburt an anders erziehen und fördern

Entwicklungspsychologische Theorien über das Temperament wür den missverstanden, erschöpfte sich ihre Anwendung auf die Einordnung von Kindern auf Temperamentsdimensionen. Stattdessen betonen bereits Thomas und Chess in ihrem Hauptwerk „Temperament und Entwicklung“ aus dem Jahre 1980, dass erst ein Zusammenspiel von Temperamentsmerkmalen und Umwelterfahrungen die individuelle Persönlichkeit des Kindes formt. Die Rahmenbedingungen in Familie, Kindertagesbetreuung und Schule können dabei förderlich oder hinderlich sein, ungünstige Temperamentsmerkmale also ausgleichen oder diese zum Nachteil des Kindes sogar verstärken.

So wird ein Kind, das anlagebedingt wenig Struktur und Rhythmus mitbringt, also unregelmäßig schläft, nur schwer Routinen in Bezug auf die Mahlzeiten entwickelt, davon profitieren, wenn in der Familie Strukturierungshilfen angeboten oder Rituale eingeführt werden. Stark ablenkbaren Kindern hilft eine reizarme Umgebung und besonders die geduldige Unterstützung durch Erwachsene, um langfristig mit Störreizen angemessen umgehen zu können.

Kompensierende Schwerpunkte

Ein Kind mit hoher Reaktionsintensität, das sich beispielsweise aufbrausend zeigt, andere ärgert oder gar verletzt, hat einen höheren Bedarf, zur Emotionsregulation hingeführt zu werden, als andere. Ein Kind mit Rückzugstendenzen im Umgang mit neuen Situationen lernt die Annäherung an Unbekanntes, wenn es von Erwachsenen behutsam begleitet, aber auch ermutigt wird. Für jede der oben genannten extremen Temperamentsausprägungen sind in diesem Sinne kompensierende erzieherische Schwerpunkte umsetzbar.

Und es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die Entwicklung von Kindern verläuft, die in Bezug auf dysfunktionale Temperamentsmerkmale in den vielen Jahren ihrer Kindheit und Jugend keine korrigierenden Erfahrungen machen können. Alle Konzepte zur psychischen Gesundheit von Kindern – sei es das beschriebene Modell der Passung von Thomas und Chess oder beispielsweise das Fit-/ Misfit-Modell des Schweizer Kinderarztes Remo H. Largo – warnen vor der Entwicklung von Verhaltensstörungen im Kindesalter aufgrund einer verflachten Erziehungskultur.

Besonders die sehr frühe „Krankmachung“ von Kindern durch psychologische Diagnosen erweckt stark den Eindruck, dass (anstrengende) ausgleichende Erziehungsaktivitäten möglicherweise ausblieben. Vor allem im Zusammenhang mit der Überdiagnostik von ADHS bei kleinen Kindern wird sogar kritisch von einer Psychiatrisierung der Pädagogik, das heißt der Delegation ursprünglich erzieherischer Aufgaben an die Medizin, gesprochen (genauer bei Pagel, 2003 oder Stiehler, 2007).

Prävention von Verhaltensstörungen in der Kita

An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht nur die Familie, sondern auch die Kita korrigierende Erfahrungen ermöglichen sollte, um Verhaltensstörungen vorzubeugen. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus dem Jahre 2018 sind nämlich alarmierend: Unter den Drei- bis Fünfjährigen gelten vierzehn Prozent der Mädchen und einundzwanzig Prozent der Jungen als psychisch auffällig, bei niedrigem sozialem Status liegen die prozentualen Anteile ungleich höher. Vor dem Hintergrund des Gesagten können die besorgniserregenden Gefährdungen der psychischen Gesundheit von kleinen Kindern auch als Ausdruck einer wenig differenzierenden Entwicklungsförderung gedeutet werden.

Die Bedingungen für unterschiedliche pädagogische Antworten auf unterschiedliche Kinder sind in der Kindertagesstätte nicht optimal. Zur schwierigen Personalsituation kommt die paradoxe bildungspolitische Vorgabe, Kinder auf der einen Seite als Individuen zu betrachten, auf der anderen Seite aber allen ähnliche Erziehungs- und Lernangebote zu machen. Im modernen Selbstbildungsparadigma werden seit fünfzehn Jahren vorrangig freie und individualisierte Lernformen in offenen Kita-Konzepten als Königsweg zum Bildungserfolg erklärt, wobei gerade Kinder mit Entwicklungsrisiken darin keine optimale Struktur vorfinden. Eine einseitige Ressourcenorientierung in Lerndokumentationen verstellt zudem den Blick für Defizite und damit für Entwicklungsrisiken bei Kindern.

Fazit – was uns die Temperamentsforschung lehrt

Als Fazit lässt sich aus der Temperamentsforschung ableiten: Kinder haben von Geburt an unterschiedl iche Temperamentsmerkmale. Sie müssen auch von Geburt an eine unterschiedliche Erziehung und Förderung erfahren, vor allem dann, wenn ihre angeborenen Merkmale eine altersgemäße soziale und kognitive Entwicklung erschweren. Unterschiedliche Kinder in der Kindertagesstätte entwickeln sich dann am besten, wenn die Erziehungs-, Bildungs- und Lernangebote zusammen betrachtet mindestens so unterschiedlich sind wie die Temperamente der Kinder. Nur dann findet jedes Kind das passende Angebot, das es zur Erweiterung seines anlagebedingten Verhaltensspektrums braucht.

LITERATUR LARGO, REMO H. (2019): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. München: Piper. THOMAS, ALEXANDER; CHESS, STELLA AND BIRCH, HERBERT G. (1970): The origin of personality. Scientific American, 223 (2), Seite 102–109. (online verfügbar)

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