Das Kohärenzgefühl stützen und stärken
Gerade die ersten Lebensjahre eines Kindes sind von besonderer Bedeutung für einen gelungenen Entwicklungsverlauf. Deshalb muss in allen Lebenswelten und somit von all seinen Bezugspersonen, sein Kohärenzgefühl, eine wesentliche Ressource, mit der die Grundhaltung eines Menschen zur Welt wie auch seinem eigenen Lebensweg gegenüber beschrieben wird, gestützt und gestärkt werden. Krause und Lorenz (2009) haben die drei Komponenten des Kohärenzgefühls für die pädagogische Praxis verständlich gemacht: Unter Verstehbarkeit fassen sie die Erwartung und die Fähigkeit eines Menschen, ihm bekannte wie auch für ihn bislang völlig unbekannte Eindrücke ordnen und daraus strukturierte Information aufnehmen und verarbeiten zu können. Sicherheitsgefühle und das Erleben positiver Beziehungen spielen eine große Rolle.
Mit Handhabbarkeit wird die beruhigende Überzeugung beschrieben, die schon ein Kind haben kann, dass es Schwierigkeiten und Krisen, vor die es in seinem Leben immer einmal wieder gestellt wird, lösen und bewältigen kann. Es geht um Belastungsbalance, um ans Entwicklungstempo angepasste Anforderungen. Die Bedeutsamkeit hat den meisten Einfluss auf die Persönlichkeitsstärke und ist daher besonders wichtig. Hierunter verstehen wir das Ausmaß, in dem ein Mensch sein Leben durch aktive Teilhabe und Akzeptanz als „reich“ empfindet und deshalb auch als lohnend, sich Problemen und Anforderungen zu stellen und mit ihnen klarzukommen (Haug- Schnabel et al. 2020). Wie können Kitafachkräfte im Alltag die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit der Kinder bezüglich der Corona-Krise und der damit einhergehenden Veränderungen fördern?
Verstehbarkeit
Bei der Verstehbarkeit gilt es, in den Blick zu nehmen, was sich alles für die Kinder in Familie, Öffentlichkeit und in der Kita in den letzten Monaten verändert hat. Die Kinder, die viele Wochen nur in ihrer Familie verbracht haben, haben die Geschehnisse rund um die Corona- Krise ganz unterschiedlich wahrgenommen und zu inneren Bilder ihrer Wirklichkeit verarbeitet. „Welche Unsicherheiten und gar Ängste damit verbunden sind, hängt zum Teil damit zusammen, wie die Erwachsenen mit ihnen darüber kommuniziert haben“ (Sturzenhecker et al. 2020). Diese unterschiedlichen inneren Bilder der Kinder, ihre Sorgen und Ängste aber auch ihre Wünsche nach baldiger Veränderung, sollten in gemeinsamen Gesprächskreisen in der Kita aufgegriffen und diskutiert werden. Dabei müssen auch die inneren Bilder der Fachkräfte zur Sprache kommen. Kinder erfahren so, dass die anderen Kinder aber auch die Erzieher*innen manche Ängste mit ihnen teilen, die zwar herausfordernd sein können, denen man aber gemeinsam besser begegnen kann. Jede Idee der Kinder für einen guten Umgang mit den coronabedingten Einschränkungen und notwendigen Schutzmaßnahmen ist willkommen!
Auf kindgemäße Weise gilt es, den Mädchen und Jungen zu erklären, dass es momentan besonders wichtig ist, auf Hygiene zu achten, damit sich die krankmachenden Coronaviren nicht auf andere Menschen übertragen können. Der gleiche Grund steckt hinter dem Tragen einer Atemschutzmaske für Schulkinder und Erwachsene. Damit die Kinder keine übertriebenen Ängste vor Ansteckung entwickeln, ist es aber auch wichtig, ihnen eine realistische Einschätzung des Krankheitsverlaufs zu vermitteln: Kinder selbst werden durch das Coronavirus meistens nicht krank, und wenn, dann nur sehr mild. Auch Erwachsene sind meistens (in 4 von 5 Fällen) nicht stark davon betroffen, aber es gibt Menschen, die bereits aus anderen Gründen geschwächt sind, die deutlich schwerer davon betroffen sind. Vor allem diese Personen gilt es zu schützen. Die Erklärungen sollten dem Alter des Kindes, seinem Vorwissen und seiner Neugier entsprechend detailliert und sachlich ausfallen, ohne Panik dabei zu verbreiten. Erklärvideos im Internet und geeignete Bilderbücher können dabei helfen, das mikroskopisch kleine Geschehen anschaulich vor Augen zu führen. Aber die Kinder sollten auch über die aktuellen Rahmenbedingungen und möglichen Handlungsalternativen in ihrer Kita informiert werden. Den Kindern müssen die strukturellen Bedingungen in der Kita einschließlich der Möglichkeiten und Grenzen, die diese mit sich bringen, visuell unterstützt offengelegt werden (Sturzenhecker et al. 2020). Klare, teils mit den Kindern zusammen erstellte Hinweisschilder in Form von Piktogrammen sind nur eine Möglichkeit, um den Kindern Orientierung zu geben.
Handhabbarkeit
Auch an manchen Planungen und Entscheidungen beteiligt zu sein, hilft den Kindern, ein Stück weit Kontrolle über das aktuelle Geschehen wiederzuerlangen. Durch die gemeinsame Gestaltung von Schutzmaßnahmen und dem Transparentmachen von momentanen Veränderungen im Kita-Alltag wird die Überzeugung der Kinder gestärkt, Probleme und Krisen lösen und bewältigen zu können. Die Handhabbarkeitskomponente des Kohärenzgefühls wird so gefördert.
Die gute Botschaft ist: Jeder von uns kann etwas dafür tun, dass sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet! Dazu gehört auch die Vermeidung von körperlicher Nähe zu Menschen, die nicht zur eigenen Familie gehören. Davon ausgenommen ist natürlich der sicherheitsgebende Körperkontakt zwischen (Bezugs-)Erzieher*in und Krippenkind, ein elementares Qualitätsmerkmal jeder Fachkraft-Kind-Beziehung – nicht nur in der Eingewöhnungsphase. Soziale Distanzierung verringert die Chance, selbst angesteckt zu werden, und wenn man selbst infiziert ist, andere Menschen anzustecken. Auch kann im Infektionsfall besser nachvollzogen werden, wen man möglicherweise angesteckt haben könnte. Darum dürfen nicht mehr alle Kinder mit allen Kindern und Fachkräften in der Kita spielen, sondern nur noch mit den Kindern und Fachkräften der eigenen Gruppe. Auch können deshalb nicht mehr alle Funktionsräume und das Außengelände jederzeit von allen Kindern gleichzeitig genutzt werden. Ein wichtiges Qualitätsmerkmal der Offenen Arbeit ist damit zwar bis auf Weiteres außer Kraft gesetzt, aber der Kern der Offenen Arbeit besteht ja nicht nur in der sichtbaren Öffnung von Räumen und Angeboten, sondern offenbart sich vor allem in der „unsichtbaren“ Seite, der Offenheit, d. h. in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte und dem partizipativen Umgang mit den Kindern (Bensel/Haug-Schnabel 2020, Haug-Schnabel/Bensel 2017).
Sturzenhecker und Kolleg*innen (2020) schlagen auch vor, die Meinungen der Kinder zur aktuellen Gestaltung des Kita- Lebens, aber auch des Lebens außerhalb der Kita auf der Kita-Webseite oder in der lokalen Presse publik zu machen. Auch wenn die Möglichkeiten der Kinder beschränkt sind, ihre Rechte öffentlich einzufordern und zu entscheiden, werden sie auf diese Weise als Beteiligungsberechtigte anerkannt und bekommen eine Stimme. Ein wichtiger Baustein demokratischer Bildung.
Auch die coronabedingten Ängste der Erwachsenen hängen stark mit dem Gefühl des Kontrollverlusts zusammen. Ich bin angreifbar geworden für eine weitgehend unsichtbare Bedrohung. Gefahr lauert überall dort, wo (fremde) Menschen sind. Ich kann nicht mehr überall hinreisen, wohin ich möchte. Kann mich nicht mehr in größeren Gruppen aufhalten, größere Feste feiern. Nicht mehr spontan jemanden berühren, ihm oder ihr die Hand schütteln oder jemanden umarmen, wenn mir danach ist. Kann nur unter besonderen Auflagen Kino, Theater oder andere kulturelle Events nutzen. Großveranstaltungen wie Konzerte oder Sportereignisse finden überhaupt nicht mehr oder nur noch ohne Publikum statt.
Eine aktuelle Studie der Universität Leipzig von Hannes Zacher (2020) kann bestätigen, dass Personen, die die Corona- Pandemie als Herausforderung und die Folgen der Pandemie als kontrollierbar bewerten, ein höheres subjektives Wohlbefinden aufweisen. Außerdem fühlen sich die Befragten wohler, wenn sie Probleme aktiv gelöst haben, die positiven Seiten der Krise gesehen und soziale Unterstützung erfahren haben. Wer dagegen die Krise als Bedrohung wahrnimmt, sie verleugnet oder sich selbst für die Folgen der Krise beschuldigt, fühlt sich weniger gut.
Alle Wege, die Erwachsenen und Kindern ein Stück weit die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben – auch durch Unterstützung der Kita – verringern auf diese Weise gleichzeitig auch bestehende Ängste. Dazu müssen die Fachkräfte sich aber auch ihren eigenen Ängsten vor Erkrankung stellen und Dynamiken im Team wegen unterschiedlicher Ansichten im Umgang mit der Corona-Krise in den Blick nehmen und offen diskutieren.
Bedeutsamkeit
Bereits vor der aktuellen Pandemie-Situation sollte die Teilhabemöglichkeit aller Kinder an der Lebenswelt Kita unabhängig von ihren individuellen Bedarfen, ggf. benachteiligten familiären Ausgangssituationen oder ihrem Entwicklungsstand so groß sein, dass die Kinder es für lohnenswert empfinden, sich vorhandenen Problemen und Anforderungen zu stellen. Auch die Compliance bezüglich der Schutzmaßnahmen und Kontaktbeschränkungen hängt davon ab, wie wichtig die Kinder ihren eigenen Beitrag zur Gestaltung der Lebenswelt Kita einschätzen. Dadurch, dass die Kinder aktiv an den Maßnahmen zur Krisenbewältigung beteiligt werden, wird die Bedeutung ihres eigenen Beitrags für sie noch spürbarer. Das Gefühl stellt sich ein: „Es lohnt sich mitzuhelfen, dass wir die aktuelle Krise bestmöglich gestalten und gut überstehen: Mein Beitrag zählt!“ Durch diese Form der Einbindung wird das eigene (Mit)Tun für die Kinder bedeutsam und stärkt auf diese Weise ihr Kohärenzgefühl. Was die Kinder auch für kommende Herausforderungen in ihrer Persönlichkeit stärken kann.
Von Eltern erzeugte Ängste
Kindliche Ängste können entwicklungsbedingte Ursachen haben oder sich durch situative Besonderheiten der Kindertageseinrichtung ergeben. Manche Kinder bringen jedoch ihre Ängste auch von zu Hause mit, weil sie dort zu wenig Halt und Rücksichtnahme erleben, ihnen zu enge Grenzen gesetzt werden oder sich Ängste der Eltern, mit denen sie häufig im Familienleben konfrontiert sind, direkt auf sie und ihre Alltagsbewältigung übertragen (Bensel et al. 2020). Dies können beispielsweise Ängste vor Krankheiten, vor Tieren, Mahlzeitensituationen, aber auch vor unbekannten Orten und Menschen anderer Kulturen sein.
Kitas haben nicht nur den Auftrag und hervorragende Möglichkeiten, auch einen kritischen Blick auf Medienberichterstattung zu werfen. Vermehrt lässt sich feststellen, dass manche Eltern auch aufgrund betont negativer Medieninhalte irrationale Ängste vor der realen Welt entwickeln, etwa vor Kriminalität oder Krieg. Auch die Verbreitung von irrationalen und bedrohlichen Verschwörungstheorien über Internetforen nimmt in den letzten Jahren deutlich zu. Dieses „Böse-Welt-Syndrom“ mancher Eltern kann sich auf vielfältigen Wegen auf ihre Kinder übertragen und unnötige Ängste schüren.
Es ist für Kinder nicht möglich, die tatsächlich geringe Eintrittswahrscheinlichkeit eines dieser befürchteten Ereignisse richtig einzuschätzen. Darum ist das Mitanschauen von Nachrichtensendungen in der frühen Kindheit zu vermeiden. Falls Kinder entsprechende Ängste äußern, sollten ihnen diese nicht ausgeredet, aber die Tatsache betont werden, dass wir in unserem Land in großer Sicherheit leben.
Welche Rolle Eltern bei der Entwicklung kindlicher Ängste tatsächlich spielen, wird aktuell auch an der Universität Hildesheim untersucht. Dort soll auch die Angst vor der Coronavirus-Pandemie aus Kinderperspektive untersucht werden. Die Entwicklungspsychologin Cathleen Kappes möchte herausfinden, wie sich die Krise auf das Angstempfinden von Kindern auswirkt und wie verschiedene Ängste zusammenhängen. „Ängste werden eher selten aus der Perspektive der Kinder selbst erfasst. Dabei weicht ihre Wahrnehmung durchaus von denen der Erwachsenen ab. Um ein besseres Verständnis ihrer Ängste gerade auch in der aktuellen Zeit zu gewinnen, möchten wir die Kinder selbst zu Wort kommen lassen. Dabei interessiert uns auch, inwieweit Eltern eine Rolle bei der Angstentwicklung spielen“, sagt Cathleen Kappes (2020).
Dr. Joachim Bensel, Verhaltensbiologe, Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen.
Kontakt
www.verhaltensbiologie.com
Literatur
Bensel, Joachim/Haug-Schnabel, Gabriele: Offene Arbeit in Zeiten von Corona: Aufschlussreiche Erkenntnisse aus der Praxis. In: Kindergarten heute 6/2020. Herder 2020
Bensel, Joachim/Haug-Schnabel, Gabriele/Kremers, Johanna: Kinderängste verstehen und achtsam begleiten. Kindergarten heute – wissen kompakt. Herder 2020
Haug-Schnabel, Gabriele/Bensel, Joachim/Fischer, Sibylle: Stark fürs Leben. Was Kinder über 4 in der Kita wissen wollen. Herder 2020
Haug-Schnabel, Gabriele/Bensel, Joachim (Hrsg.): Offene Arbeit in Theorie und Praxis. Kindergarten heute - wissen kompakt. Herder 2017
Kappes, Cathleen: Ängste im Kindesalter: Studie der Entwicklungspsychologie startet. Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe, 2020. Link: www.jugendhilfeportal.de/forschung/kindheitsforschung/artikel/aengste-im-kindesalterstudie-der-entwicklungspsychologie-startet (Stand 09/20)
Krause, Christina/Lorenz, Rüdiger-Felix: Was KindernHalt gibt. Salutogenese in der Erziehung. Vandenhoeck & Ruprecht 2009
Sturzenhecker, Benedikt/Knauer, Raingard/Hansen, Rüdiger: Partizipation in Kitas in Zeiten von Corona. Online-Familienhandbuch, 2020. Link: www.familienhandbuch.de/babys-kinder/bildungsbereiche/kinderbeteiligung/PartizipationinKitasinZeitenvonCorona.php (Stand 09/20)
Zacher, Hannes: Corona-Pandemie hat subjektives Wohlbefinden vieler Menschen negativ beeinflusst. Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe, 2020. Link: www.jugendhilfeportal.de/fokus/coronavirus/artikel/corona-pandemie-hatsubjektives-wohlbefinden-vieler-menschen-negativ-beeinflusst/ (Stand 09/20)
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