02.07.2019
Gabriele Haug-Schnabel
Redaktion

Auf der Suche nach Tätigkeitsbeute – Entwicklungsbegleitung im Kitaalltag

Einen Geburtstag zu feiern oder den Waldtag erleben – das sind die Sahnehäubchen, die dem Kita-Alltag besonderen Glanz verleihen. Mindestens genauso herausfordernd für pädagogische Fachkräfte ist es jedoch, einen sensiblen Blick für immer wiederkehrende Situationen zu bewahren und die Kinder kompetent durch den ganz normalen Kita-Alltag zu begleiten. Die Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel richtet ihr Augenmerk auf alltägliche Szenarien und regt an, über folgende Fragen gründlich nachzudenken: Wie kann das morgendliche Ankommen gut begleitet werden? Wie wird man in der weiblich dominierten Kita auch Jungs gerecht? Wie können Fachkräfte mit Konflikten umgehen?

Ein ganz normaler Tag beginnt in der Kita mit dem Ankommender einzelnen Kinder. Eine Situation, die sich jeden Tag aufs Neue wiederholt. Doch es lohnt sich, diese tagtägliche Routine der Begrüßung einmal genauer anzusehen. Denn Fachkräfte können die Ankunft für die Kinder nutzen, um ihnen einen guten Start in der Kita zu ermöglichen.

Die Begleitung des morgendlichen Weltenwechsels zwischen zu Hause und der Kita

„Guten Morgen Sabea! Du strahlst ja mit der Sonne um die Wette!“ Eine solch individuell zugewandte Begrüßung zeigt dem Mädchen, dass die Fachkraft genau hinschaut und gemerkt hat, dass es ihm heute gut geht. So kann Sabea gestärkt von der Familienwelt in das Einrichtungsleben wechseln. Wie eine sensible Begleitung des regelmäßigen Weltenwechsel zwischen zu Hause und Kita aussehen sollte, wurde in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Frühpädagogik genommen. Zu Recht: Denn eine individuelle, feinfühlige Übergangsbegleitung ermöglicht jedem Kind einen deutlich erleichterten Tagesstart in der Einrichtung – egal wie es angekommen ist. Denn während Sabea strahlend in die Kita läuft, kann das bei anderen Kindern ganz anders aussehen. Die morgendliche Familienzeit hat völlig unterschiedliche Gesichter. Für das Erleben des Kindes und für sein Ankommen und den Start in der Gruppe macht es einen Unterschied, ob es morgens mit dem Auto gebracht wurde oder ob es mit dem Laufrad neben Papas Fahrrad hergelaufen ist. Ob es erst vor erst Kurzem geweckt und dann in Windeseile angezogen wurde oder ob es schon zwei Stunden munteres Familienleben hinter sich hat. Ebenso kann es sein, dass das Kind vor Kitabeginn schon eine Stunde vor dem Fernseher gesessen oder die Mutter seit den frühen Morgenstunden beim Putzender Grundschule begleitet hat. Diese Vielfalt an morgendlichen Erfahrungswelten fordert diversitätsbewusste Antworten. Die Möglichkeit, dass ein Kind an einem selbst aus- und aufgesuchten „Startort“ ankommen kann, gilt als entlastende Übergangshilfe beim morgendlichen Wechsel von der Familie in die Kita. Genauso hilfreich ist eine individuelle Begleitungseiner ersten Spielaktionen – anfangs vor allem durch die Bezugserzieherinnen. Diese Formen der Beantwortung jeweils tagesaktueller Bedürfnisse sind sowohl beziehungs- wie auch entwicklungsfördernd.

„Ich darf selbst entscheiden, ob ich im Garten oder im Haus starte!“

Wenn ein Kind die Wahl hat, seinen Kita-Tag in den Räumen oder im Garten zu beginnen, bedeutet das konkret, dass ab der Ankunft des ersten Kindes das Außengelände bereits geöffnet, „angespielt“ und mit mindestens einer Fachkraft besetzt sein muss Nicht nur, was ein Kind vor seiner Ankunft in der Kita schon
erlebt hat, ist sehr unterschiedlich. Es macht auch einen großen Unterschied für das Ankommen, wie die physiologischen Bedürfnisse am Morgen sind – ob ein Kind noch nichts gegessen oder im Bett liegend seine Pulle Milch getrunken hat. Das eine Kind hat mit Mama und Papa und den Geschwistern in Ruhe gefrühstückt, ein anderes hat schon frische indische Kartoffeltaschen gebacken bekommen, ein drittes hat im Auto gerade
noch ein beim Bäcker gekauftes Teilchen verzehrt. Auch hier stellt sich die Frage: Wie kann eine entwicklungsförderliche pädagogische Beantwortung angesichts dieser physiologischen Unterschiede beim Start aussehen und wie klar müssen die Entscheidungsmöglichkeiten für ein Kind kommuniziert werden, damit es sich tagesaktuell entscheiden kann? Wenn ein Kind weiß, dass es verschiedene Wahlmöglichkeiten hat, bedeutet das auch, dass die Einrichtung entsprechend vorbreitet sein muss. „Ich darf irgendwann zwischen 7.00 und 9:30 Uhr frühstücken, wenn ich Hunger habe oder mit Maurice zusammen essen möchte! Mich mit an den Tisch setzen und mit den essenden Kindern reden, darf ich immer!“ Konkret heißt das für die Fachkräfte: Ab der Ankunft des ersten Kindes wird der Aufbau des Frühstücksbuffets gestartet. Das Frühstück als vielfältige soziale Lernsituation wird dabei anregend und ressourcenorientiert begleitet.

Entwicklungsbegleitung Praxis Kita

Jungs geraten ins Hintertreffen

In der Regel herrscht in Kitas eine Dominanz weiblicher Fachkräfte vor. Doch ohne die Vielfalt männlicher Anregungen, männlicher Reaktionen und männlicher Bewältigungsstrategien fehlt im „Angebot“ ein Teil des Spektrums geschlechtergerechter Verhaltensvarianten. Dies trifft auch dann zu, wenn weibliche Fachkräfte im Team sind, „an denen ein Junge verlorengegangen ist“, die bei Wind und Wetter rausgehen und Kinder auf Bäume klettern lassen.

„Meist etwa eine Stunde nach der morgendlichen Ankunft ‚vagabundieren‘ gelangweilte Jungs durch die Einrichtung, auf der Suche nach Anregungen.“

Die Entwicklungsbegleitung von Jungen in der Elementarpädagogik muss genauer in den Blick genommen und deutlich verbessert werden. Denn in Sachen Bildungserfolg haben in den letzten Jahren die Mädchen die Jungen zunehmend überholt. Die Jungen geraten ins Hintertreffen, wenn man ihre Zukunftsaussichten mit denen der Mädchen vergleicht. In den Schreibwerkstätten, den Ateliers aber auch den Bücherecken der Kitas sitzen vor allem Mädchen. Sie lassen sich auch von den oft nicht lockenden Materialien und der wenig herausfordernden Umgebung schrecken oder treffen sich sowieso eher aus sozialen Gründen dort, um „ungestört“ zu sein. Grundlegende Schreib- und Lesefähigkeiten fehlen jedoch vor allem Jungen, das haben Entwicklungsforscher inzwischen europaweit festgestellt. Besonders Jungs aus sozialökonomisch schwachen Milieus sowie mit Migrationshintergrundgeraten mit ihren Bildungsleistungen in den Rückstand. Beobachtungen der pädagogischen Qualität bei laufendem Betrieb in Kitas haben vielfach gezeigt, dass viele Bildungsangebote manche Kinder, darunter auffallend oft Jungen, nicht (mehr) ansprechen. Doch in den Teams gibt es zu wenige Diskussionen darüber, wie diese Attraktionsdefizite durch eine veränderte Alltagsbegleitung von Jungen und Mädchen abgebaut werden könnten. Alle Teams müssen sich die geschlechtersensible Frage stellen, ob es für alle Kinder Vorschul-Bildung ausschließlich im Sitzen an Tischen, mit vorsortierten Materialien und bereits vorgegebenem Lernziel gibt.

Geschlechtergetrennte Angebote können sinnvoll sein

Manche Mädchen oder Jungs können ihre unterschiedlichen Vorlieben und Interessen besser in geschlechtsgetrennten Gruppen ausleben. Andere Kinder finden dagegen gerade gegengeschlechtliche Spielpartner in einer gemeinsamen Aktion herausfordernd und anregend. Eine individuelle Beantwortung der speziellen Interessen eines Mädchens oder eines Jungens stellt das anerkannte Konzept einer geschlechtergerechten Koedukation insgesamt nicht infrage. Doch flexible Mischungen aus geschlechtshomogenen und geschlechtsheterogenen Angeboten reagieren auf diese unterschiedlichen individuellen und geschlechtstypischen Neigungen. Sie sind nicht an einem bestimmten Geschlechterideal ausgerichtet, sondern an der vielfältigen Realität. Die Überrepräsentanz weiblicher Fachkräfte hat Auswirkungen auf die räumliche und materielle Ausgestaltung sowie auf die Angebotsstruktur von Kitas. Risikovermeidung dominiert, es fehlt an grobmotorischen Herausforderungen und Wettkampfspielen. Das hat Folgen: Jungen langweilen sich schneller und häufiger als Mädchen. Für gelangweilte Jungen, die vielerorts immer etwa zur selben Zeit – meist etwa 45 bis 60 Minuten nach der morgendlichen Ankunft – durch die Einrichtung ziehen, um Anregungen zu bekommen, gibt es inzwischen einen Fachbegriff: Sie „vagabundieren“, streifen in kleinen Gruppen durch die Einrichtung, auf der Suche nach spannender Tätigkeitsbeute und dem Ende der Langeweile. Diese Denk- und Erfahrungslust könnte man aufgreifen und nutzen. Doch statt die Vagabunden zu fragen, was sie interessieren könnte, was sie erfahren wollen, wofür sie brennen würden, werden sie meist gezielt mit Aktivitäten beschäftigt, die in Richtung Schulvorbereitung gehen! Diese Suchenden werden also zum Abarbeiten vorgegebener, von außen bestimmter Aktivitäten verdonnert, zumeist ohne die motivierende Beteiligung der Fachkräfte.

Professionelle Konfliktbegleitung ist Entwicklungsförderung

Was stört uns eigentlich an einem aggressiven Kind? Es fällt auf! Es tanzt aus der Reihe! Es passt nicht in unsere Planung und bringt Sand ins Getriebe! Es stört – auch die anderen Kinder. Es fordert uns täglich heraus und ist anstrengend – denn es braucht sofort eine individuelle Begleitung, die man nicht aufschieben kann. Ist das in einer Gruppenpädagogik überhaupt möglich? Doch Konflikte sind Teil einer gemeinsamen Aktion.
Deshalb sollten Konflikte mit einem Kind genauso wie Streit unter Kindern nicht vermieden, sondern professionell begleitet werden. „Heute mal kein Streit“ – das ist kein professionelles Tagesziel in einer Kita. Konflikte und ihre Beantwortung sind entwicklungsrelevante Alltagsinteraktionen mit hoher Verantwortung für den weiteren Entwicklungsverlauf eines Kindes. Beim Handling von Konflikten geht es um die Förderung sozialer Intelligenz.

Mit Wut umzugehen, muss ein Kind erst lernen

Negative Gefühle und Äußerungen wie Wut und Trotz haben ihre Berechtigung im Alltag, sie sind wichtig. Denn alle Gefühle sind in Ordnung und dürfen gesagt und gezeigt werden. Nur nicht alle daraus entstehenden Handlungen – wie schlagen, kratzen, beißen, zwicken – können akzeptiert werden. Mit Wut umzugehen muss man erst lernen, was eine Frage des Alters, des Entwicklungsstandes, aber auch der Entwicklungsbegleitung und den alltäglich gemachten Erfahrungen mit der Bewältigung derartiger Hürden ist. Genau hierfür ist Konfliktassistenz durch die Fachkräfte nötig. Die Forschungen der Entwicklungspsychologin Beate Sodian zur Theory of Mind sind in diesem Zusammenhang wichtig. Denn sie geben Antwort darauf, ab wann Kinder sich vorstellen können, dass andere Kinder einen Wunsch haben, der von ihrem eigenen abweicht, diesem sogar widerspricht;

  • dass andere Kinder etwas anderes bei einer gemeinsamen Handlung beabsichtigen als sie selbst;
  • dass andere Kinder ein Ziel verfolgen, das sich mit ihrem deckt, ihm aber genauso im Weg stehen kann;
  • dass andere Kinder von einer anderen Ausgangssituation ausgehen und deshalb einen anderen Zusammenhang vermuten, anders planen, anders handeln und die Situation anders beurteilen.


Ab zwei Jahren können die meisten Kinder ihre eigenen Wünsche und Absichten benennen. Es braucht aber noch einige Monate und soziale Unterstützung, bis sie bemerken, dass sich ihre Vorstellungen von denen der anderen Kinder unterscheiden können. Zwischen drei und vier Jahren bemerkt ein Kind, dass sich eine Person unerwartet verhält, weil ihr nötige Informationen fehlen. Es schlussfolgert aber erst ein bis zwei Jahre später, dass diese Person aufgrund fehlender Informationen von einer falsch eingeschätzten Ausgangssituation ausgehen wird. Erwachsene müssen deshalb in schwierigen Situationen Übersetzungshilfe anbieten und zum Beispiel erklären, wie sich das andere Kind gerade fühlt, was in ihm vorgeht, und was es nicht verstehen kann. Eine Fachkraft kann einem Kind sagen, was das andere glaubt, was es möchte, befürchtet, im Moment denkt oder was das Gegenüber gar nicht wissen kann, weil es die Vorgeschichte nicht kennt. Wenn kindliche Aushandlungskompetenzen erschöpft sind und Verzweiflung droht, muss jemand die Sichtweise beider Kinder einnehmen. Eine Fachkraft kann beruhigen und trösten sowie auf eine alle zufriedenstellende Lösung hinarbeiten oder Alternativen anbieten. Am wichtigsten ist, dass nicht der Konflikt, sondern die erreichte Verständigung im Gedächtnis bleibt und man gemeinsam weiterspielen kann.

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