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„Entschuldigung, Christina“, ruft die Nachbarin der Kita, Frau Selinger, über den Zaun. „Haben Sie schon gehört?“ Christina zuckt die Achseln. „Was denn?“ „Na, dass der Herr Klingbeil von nebenan den kleinen Robin immer in die Garage einsperrt.“ Mit großen Augen sieht die Nachbarin die junge Erzieherin an. Instinktiv dreht Christina sich nach den Kindern um und sieht den dreijährigen Robin, der mit einer Schaufel im Sandkasten sitzt. Sie überlegt einen Moment. „Woher wissen Sie das?“, fragt sie dann die Nachbarin. „Na, hören Sie mal. Das wissen alle hier.“ Entrüstet stützt Frau Selinger die Hände in die Hüften. „Das ist jeden Abend das gleiche Trauerspiel. Man hört den Kleinen brüllen, den Vater schreien, die Mutter weinen und kurz darauf knallt das Garagentor zu. Dann ist Ruhe. Irgendwann geht das Tor wieder auf, und Klingbeil geht mit dem Knirps in die Wohnung.“ „Aha. Danke für den Hinweis“, sagt Christina und geht nachdenklich zurück. Nun stellt sich für sie die Frage, wie sie mit dieser Information umgehen soll. Genau da kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Alarmiert von mehreren Missbrauchsskandalen in Kinderbetreuungseinrichtungen ordnen Träger seit 2016 verstärkt spezielle Präventionsschulungen für ihre Kindertagesstätten-Teams an. Die Diözesen der Erzbistümer verpflichten Pfarrer sowie alle Angestellten innerhalb der Pfarreien und Kirchen bis hin zum Hausmeister und zur Reinigungskraft zur Teilnahme. Kommunale Träger schulen ihr Personal gleichermaßen. Alle Teammitglieder, die sich beruflich in der Nähe von Kindern und Jugendlichen aufhalten, werden sensibilisiert, richtig zu handeln, wenn der Ernstfall droht.
Doch wo beginnt diese Achtsamkeit, und wo hört sie auf? Das Thema hat viele Facetten, die oft schwer einzuschätzen sind. Wie definieren sich Missbrauch und Misshandlung? Auch Fachkräfte denken dabei zuerst an körperliche und sexuelle Gewalt. Dies ist allerdings eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Wenn Kinder leiden, zeigt sich das oft nicht an Verletzungsspuren wie blauen Flecken. Kinder leiden still, sie können Situationen lange verheimlichen. Parentifizierung etwa, wenn Kinder sich verpflichtet fühlen, einen Teil der Elternrolle zu übernehmen, läuft häufig im Stillen ab. Erwachsene außerhalb der Familie merken zunächst nichts. Sie wundern sich vielleicht nur über manche seltsame Verhaltensweise des Kindes. Aber auch Parentifizierung gilt als Kindeswohlgefährdung.
Sehr oft misshandeln Erwachsene aus der Familie Kinder auf sozial-emotionaler Ebene. Dabei mobben sie das Kind und suggerieren ihm, es sei wertlos. Das verursacht psychische Erkrankungen wie Angstzustände, Depressionen und Selbstverachtung. Im anfangs genannten Beispiel könnte eine seelische Misshandlung vorliegen. Vielleicht bestraft der Vater den kleinen Robin auch körperlich. Christina hat bisher keine Hinweise darauf gefunden. Zumindest körperlich scheint der Junge unversehrt. Aber sie nimmt sich vor, in Zukunft noch genauer auf ihn zu achten und mögliche Signale anders zu deuten.
Damit Pädagogen und Pädagoginnen erkennen können, ob ein Fall von Kindeswohlgefährdung im Sinne des §8a des II. Sozialgesetzbuches vorliegt, müssen sie genau hinsehen und im Laufe des Berufslebens feine Antennen dafür entwickeln. Grundsätzlich gilt: Was ein Kind erzählt, hat Bestand und wird nicht bewertet oder diskutiert. Wenn es beispielsweise äußert, es habe, weil es so wild war, kein Essen bekommen, muss das sofort in Augenschein genommen werden! Zeigen Kinder entwicklungsuntypische Verhaltensweisen, ist ebenfalls Vorsicht geboten. Das lässt sich anhand von Entwicklungstabellen gut einschätzen, zum Beispiel der von Kuno Beller (https://www.beller-kkp. de/). Bei einem solchen Verdacht sollten Fachkräfte den Fall möglichst zeitnah im Team besprechen. Sollte Robin nun davon berichten, dass er Angst vor Männern hat, die laut schreien, oder eine Fachkraft feststellen, dass das Kind ängstlich auf Dunkelheit oder enge Räume reagiert, wäre besondere Aufmerksamkeit und Beobachtung unabdingbar. Zugleich sollte Christina mit dem Team oder der Leitung über mögliche Handlungsschritte sprechen. Eine Möglichkeit wäre, an mehreren Abenden von der Kita aus zu beobachten, ob man selbst etwas von dem berichteten Geschrei mitbekommt.
Es ist wichtig, auch im Verdachtsfall Ruhe zu bewahren. Schnellschüsse helfen weder dem Kind noch den Eltern. Ein vorschnell geäußerter Verdacht kann dazu führen, dass die Eltern ihr Kind nicht mehr zur Kita bringen, die Einrichtung wechseln oder ähnliches. Damit verlieren Fachkräfte den Ein_ uss auf das Kind und können die Entwicklung auch nicht mehr beobachten. Wenn mehrere Anzeichen den Verdacht stützen und unterschiedliche Personen eine Situation als Gefährdung einschätzen, müssen weitere Schritte folgen. Hilfe bietet zum Beispiel die insoweit erfahrene Fachkraft. Sie gibt je nach Grad der Kindeswohlgefährdung Hinweise, welche weiteren Maßnahmen zu ergreifen sind. Liegen aber eindeutige Hinweise auf eine Gewalttat vor, muss die Einrichtung umgehend handeln – je nach Dringlichkeit bis hin zum Alarmieren der Polizei. In Christinas Fall gilt auch, die Aussagen der Nachbarin nicht überzubewerten. Sie muss die Wahrnehmungen ernst nehmen, sollte jedoch auch hinterfragen, wie es dazu kommen konnte. War die Situation einmalig und die Nachbarin hat übertrieben? Hat die Nachbarin gar nicht alles so genau mitbekommen, wie sie es jetzt berichtet? Oder gibt es weitere Hinweise auf ein Fehlverhalten des Vaters? An den Antworten auf diese Fragen sollte sich Christinas Reaktion orientieren.
Susanne Wieseckel arbeitet als Erzieherin, Kitaleiterin und Fachwirtin für Sozialwesen.
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